Vorwort
Auf die Frage einer Reporterin auf einer Pressekonferenz 1995 zur Aufhebung der Wahlaltersgrenze, ob denn einem Fünfjährigen neben dem Wahlrecht auch die Möglichkeit einzuräumen sei, den Führerschein zu machen, antwortete der damals dreizehnjährige Rainer Kintzel aus Berlin: Na klar, wenn er die Prüfung in Theorie und Praxis besteht! Natürlich hatte Rainer Kintzel die Lacher auf seiner Seite.
Zwei »Minderjährige« haben damals in der Öffentlichkeit, unterstützt von engagierten Kinderrechtlern, einen mündigen und selbstbewussten Eindruck bei der Frage hinterlassen, ob denn Menschen, die die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben, wählen dürften. Sie haben mit Unterstützung des Münchener Rechtsanwalts Peter Merk das Bundesverfassungsgericht angerufen und eine Verfassungsbeschwerde angestrengt. Leider vergebens. Die zuständige Kammer hat abgelehnt, sich damit zu befassen. Viele Gründe sprechen jedoch dafür, dass dies nur vorläufig ist. Zunehmend wird die Frage öffentlich diskutiert, ob Kinder in unserer Gesellschaft reine Privatsache und bestenfalls der elterlichen und staatlichen Fürsorge und des Schutzes bedürfen, oder ob sie nicht vielmehr als Partner begriffen werden müssen. Für das Engagement des Staates, der Steuermittel einsetzt, heißt das: Kinder dürfen nicht länger als so genannte konsumtive Ausgabe begriffen werden, sondern vielmehr als Investition in die Zukunft.
In den 90er Jahren haben Reformen stattgefunden, die für eine Neubewertung der Generationenfrage im politischen Raum stehen. Der so genannte Familienlastenausgleich ist bearbeitet worden und hat zu einer Kindergelderhöhung geführt. Das Kindschafts-, Umgangs- und Sorgerecht wurde neu gestaltet. Gewalt von Eltern gegenüber Kindern ist inzwischen per Gesetz verboten. Begleitet wird dieser Prozess auch von internationalen Initiativen wie der UN-Kinderrechtskonvention. Entscheidend für den Paradigmenwechsel sind zwei Faktoren, die Druck auf die Politik erzeugen, das Verhältnis der Generationen neu zu justieren. Zum einen sind es die sozialen Herausforderungen, die viele, vor allem junge und kinderreiche Familien mit Armut konfrontieren und im Alltag auszugrenzen drohen. Zum anderen ist es die postindustrielle, sich herausbildende Wissensgesellschaft, die Bildungspolitik und Bildungsinfrastruktur in den Mittelpunkt des politischen Entscheidens rückt. Trotz dieser Veränderungen und Debatten muss noch von einem gravierenden Demokratiedefizit ausgegangen werden. Zwar sind in den letzten zehn Jahren Kinderbüros, Kindersprechstunden bei Bürgermeistern, Kinder- und Jugendparlamente und Beteiligungen an Sanierungs- und Verkehrsprojekten aus dem Boden geschossen. Partizipation heißt das Schlagwort dafür. Doch nachhaltige Wirkung wird nur dort erreicht, wo neben der örtlichen Vernetzung auch tatsächlich engagierte Politiker am Werke sind. Gute Kondition ist gefordert. Eine PR-Nummer mit Kindern, die bekanntlich Sympathieträger sind, ist schnell organisiert – verbesserte Lebenslagen benötigen einen langen politischen Atem.
Kinderverbände und Netzwerkorganisationen im Zusammenspiel mit den unterschiedlichsten Partnern (auch aus der Wirtschaft) geben durchaus schon Impulse, doch die bislang eher einflusslosen Lobbyisten haben längst nicht alle Potenziale ausgeschöpft. Ohne engagierte Menschen vor Ort wären die Kinderlobbyisten nur die tragischen Rufer in der Wüste. Die demokratischen Defizite, der Druck der Praxis und die gesellschaftlichen Herausforderungen beschleunigen jedoch ein Politikfeld, das bisher nur der parlamentarischen Hinterbank reserviert schien. Bei nüchterner Betrachtung stellt man aber fest: Die Erwachsenenwelt ist beflissen dabei, ihre Besitzstände zu verteidigen. Wo es zwischen den Generationen wirklich ernst wird (wie bei der Rentenreform), droht die neue Generationenpolitik schnell an ihr Ende zu gelangen. Eingeführte Rollenmuster werden nur zu gerne reproduziert, um alles weit gehend so zu lassen, wie man es gewohnt ist. Die neuen generationenübergreifenden Initiativen als Lippenbekenntnisse zu inszenieren, dieses Verfahren scheint Schule zu machen, ganz abgesehen davon, dass derartige Strategien unter der jungen Generation geradezu seismografisch wahrgenommen und den Riss zwischen den Generationen eher vertiefen werden. Die Generationenpolitik der 90er Jahre braucht heute eine Zuspitzung. Mike Weimann macht mit seinem Buch die Probe aufs Exempel. Beim Wahlrecht wird es ernst. Die politische Partizipation bei Wahlen zu den verschiedenen Parlamenten ist »Minderjährigen« bislang vorenthalten – mit Ausnahme der Kommunalwahlgesetzgebung einiger Bundesländer, die 16-Jährigen das Wahlrecht einräumt. Die Forderung, die Altersgrenze generell fallen zu lassen, verunsichert die bestehenden politischen Kartelle und Lobbystrukturen. Ein Schwarm potenzieller Wähler will umworben, politische Handlungsfelder werden neu zu bewerten sein. Plötzlich werden neben den Lehrergewerkschaften auch Schülervertretungen, die die eigene Vorstellungen von Bildungstransfer und demokratischer Schule vertreten, zum wichtigen Faktor. Es gibt sie zwar schon, nur agieren sie bisher weit gehend folgenlos, wenn sich nicht politische Akteure oder Praktiker für sie verwenden.
Weimanns Vorstoß hat eine Entsprechung in der aktuellen Jugendschutzdebatte. Auch dort werden die Altersgrenzen angegriffen. Kinderrechte und wirtschaftliche Interessen gehen hier eine nicht risikolose Koalition ein. Aber bei der Doppelmoral, auf der einen Seite die Kinder vor den Verführungen des Konsumterrors schützen zu wollen, ihnen aber auf der anderen Seite in Deutschland jährlich acht Milliarden Euro Taschengeld zur Verfügung zu stellen, muss der Blick auf den gordischen Knoten fallen: Kinder werden entweder als Schutzobjekte ins Licht gerückt oder ihrem Schicksal im Schatten überlassen. Dass für Kinder und Jugendliche der Jugendschutz als ein Terrorinstrument der Erwachsenenwelt ins Spiel kommen kann oder auf der anderen Seite das Desinteresse der Erwachsenen an den Lebenswelten der Kinder unübersehbar scheint, ist die Kehrseite dieser Medaille. Hinter Weimanns Vorstoß, diesen gordischen Knoten zu lösen, steht das legitime Verständnis von einer auf Partnerschaft beruhenden Gesellschaftspolitik. Neu daran ist, dass dies generationenübergreifend gedacht ist.
Kinder und Jugendliche als Partner zu begreifen, heißt natürlich nicht, dass Eltern und Staat ihre Schutzfunktion kündigen dürften. Sie muss aber zwischen den Generationen ausgehandelt werden. Demokratie ist ein diskursiver Prozess. Kinder und Jugendliche davon auszuschließen ist unzeitgemäß. Auch in der stabilen parlamentarischen Demokratie können immer wieder Potenziale der Demokratisierung entdeckt werden. In diesem Fall berühren sie das für jede Gesellschaft essenzielle Zusammenleben der Generationen. Wie dieser Weg zu beschreiten ist, wird die Zukunft zeigen müssen. Fest steht, dass hierfür ein Mindestmaß an Konsens erzielt werden muss. Mike Weimann unterstützt diesen Prozess durch sorgfältige Argumentation und das Zusammentragen aller relevanten Fragen. Unabhängig davon, ob man seine Position teilt oder (noch) nicht, hält man ein Buch in den Händen, das in der kinderpolitischen Diskussion hinreichend für Sprengstoff sorgt.
Thomas Krüger
Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes
Berlin, September 2002