1. An alle Kinder! Auch für eilige Leser geeignet!

Was für Kinder gut ist – ist auch für Erwachsene gut! Weil ich diesen Spruch richtig finde, möchte ich Euch am An­fang dieses Büchleins den Inhalt mit einfachen Worten er­zählen. Natürlich nur in einer Kurzfassung. Erwachsene, denen das nicht gefällt, können gleich zum Kapitel 2 wei­terblättern. Ab dort steht alles ganz ausführlich. Denjeni­gen Kindern, die mehr als dieses erste Kapitel lesen möch­ten, wünsche ich einen freundlichen Erwachsenen, der die Sachen (Fremdwörter) erklären kann, die man als Kind nicht gleich versteht. Und wenn sich keiner findet, könnt Ihr mir gern schreiben; meine Adresse steht ganz am Ende im Buch. Ich werde Euch bestimmt antworten, egal ob Ihr eine Frage oder einen Verbesserungsvorschlag habt.

Kinder sollen das Wahlrecht bekommen – das ist die For­derung dieses Buches. Wer das Wahlrecht hat, darf mit­bestimmen: über die Politiker und über die Parteien, die das Land regieren. Unsere Volksvertreter, die Abgeord­neten im Landtag oder im Bundestag, kümmern sich vor allem um Probleme der Menschen, deren Wahlstimme sie haben wollen. Für ihre Wähler tun sie alles Mögliche, zum Beispiel schlagen sie neue Gesetze vor, die diesen Leuten nützen. Sie wollen, dass es ihren Wählern gut geht – und dass sie selbst wieder gewählt werden. Weil Kinder nicht wählen dürfen, tun sie ziemlich wenig für Kinder und für die Zukunft. Und das soll geändert wer­den.

Zurzeit dürfen nur Menschen wählen gehen, die schon 18 Jahre alt sind. Viele möchten, dass das auch so bleibt. Sie sagen, dass Kinder noch zu dumm zum Wählen sind, dass ihnen die Erfahrung fehlt, dass sie keine Ahnung von Politik haben und deshalb die »falsche« Partei wäh­len würden. Manche haben auch Angst, dass Kinder »an die Macht« kommen könnten. Wenn Kinder regieren, geht alles drunter und drüber, denken sich diese Erwach­senen, und das wollen sie mit der Altersgrenze von 18 Jahren verhindern. Andere sagen, dass manche Kinder noch nicht mal lesen können und deshalb gar nicht ver­stehen, was auf dem Wahlzettel steht, auf dem am Wahl­tag das Kreuz gemacht werden soll. Viele sagen, dass Kinder ganz leicht beeinflussbar sind und sowieso nur genauso wählen würden wie ihre Eltern. Oder dass sie sich von den Politikern belügen oder austricksen lassen. Diese Gegner des Kinderwahlrechts fürchten, dass die Politiker im Wahlkampf Gummibärchen verschenken, und wenn sie gewonnen haben, gar nichts für Kinder tun wollen. Einige Gegner des Kinderwahlrechts glauben, dass Kinder so lange wie möglich spielen und nicht mit Politik belästigt werden sollen. Außerdem soll angeblich nur derjenige Rechte haben, der auch Pflichten hat. Und da Kinder weniger Pflichten haben, sollen sie auch nicht wählen gehen.

Es gibt also, wie man sieht, viele Begründungen dafür, die Altersgrenze beim Wahlrecht so zu lassen, wie sie ist. Wer trotzdem (so wie ich) möchte, dass Kinder auch bei Wahlen mitbestimmen können, der muss auf all das eine Antwort haben. Zum Glück gibt es weltweit und schon seit vielen Jahren Leute, die über die Vorteile und Proble­me des Kinderwahlrechts nachgedacht haben. Schon vor fast 30 Jahren schrieb der Amerikaner Richard Farson das Buch »Menschenrechte für Kinder«, in dem er unter anderem begründet, warum das Wahlrecht auch für Kin­der wichtig ist. In Deutschland sind sogar einige Jugend­liche zum Obersten Gericht nach Karlsruhe gezogen und haben sich darüber beschwert, dass sie nicht mitwählen dürfen. Es ist also kein Wunder, dass fast alle Fragen schon gestellt wurden, die das Kinderwahlrecht auf­wirft. Die ausführlichen Antworten folgen in den näch­sten Kapiteln. Aber schon hier möchte ich die häufigsten Fragen einmal kurz beantworten.

Warum sollen Kinder das Wahlrecht bekommen?

Heutzutage brauchen sich Politiker nur wenige Gedan­ken um Probleme von Kindern zu machen. Sie werden auch wieder gewählt, wenn sie Beschlüsse fassen, die für Kinder schlecht sind. Die jetzigen Politiker hängen von den Wahlstimmen der älteren Leute ab. Von denen ist es vielen egal, wer den Umweltschmutz von heute später wegräumt (wenn das überhaupt noch möglich ist) und ob die Rohstoffe auch für die Menschen in 50 Jahren noch reichen. Sie machen jetzt Schulden, leisten sich ein schö­nes Leben – zurückzahlen müssen es irgendwann die, die jetzt Kinder sind. Aber auch schon für die Gegenwart entscheiden Politiker manche Sachen schlecht, zum Bei­spiel wie die Schule funktioniert und was Kindern alles verboten wird. Könnten Kinder mit abstimmen, müss­ten Politiker auf ihre Meinung Rücksicht nehmen, und sie würden sich mehr um die Zukunft kümmern, weil die für Kinder besonders wichtig ist.

Außerdem ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Wenn es Regeln und Gesetze gibt, an die man sich halten soll, muss man auch Einfluss auf die Menschen haben, die die­se Regeln und Gesetze machen. Für Kinder gilt das zur­zeit nicht, sie werden in diesem Punkt nicht ernst genom­men. Ihnen werden Regeln vorgesetzt, ohne dass sie sich dagegen wehren können. Das verstößt sogar gegen die Menschenrechtserklärung, die für alle Menschen auf der Welt gilt.1

Ab welchem Alter sollen Kinder wählen dürfen?

Das Wahlrecht soll ab Geburt gelten. Praktisch bedeutet das nichts anderes, als dass jeder Mensch wählen gehen kann, sobald er will – egal wie alt er ist. »Ab Geburt« klingt immer so, als ob auch Säuglinge und Kleinkinder wählen gehen sollen. Sie »sollen« aber gar nicht wählen. Kein Mensch »soll« wählen, wählen ist immer freiwillig. Und deshalb werden erst diejenigen wählen gehen, die sich dafür interessieren. Es ist so ähnlich wie mit dem De­monstrationsrecht: Auch das gilt ab Geburt, aber nie­mand regt sich darüber auf. Wer noch nicht demonstrie­ren kann, dem braucht es deshalb nicht verboten zu werden! Das Wahlrecht ohne Altersgrenze muss gefor­dert werden, weil jede Altersgrenze ungerecht für die wäre, die wählen wollen, aber das jeweilige Alter gerade noch nicht erreicht haben. Eine Altersgrenze ist vor al­lem auch deshalb ungerecht, weil das Wahlrecht ein Recht »des Volkes« ist – so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik. Zum Volk gehören aber auch die Kin­der, nicht nur die Erwachsenen.

Sind Kinder zu unreif zum Wählen?

Am besten wäre es, wenn nur ganz reife, also kluge Ent­scheidungen gefällt würden. Niemand möchte von un­reifen Menschen abhängen. Aber wer legt fest, was reif und klug ist? Soll es einen Reifetest fürs Wählen geben? Was wäre mit den Erwachsenen, die ihn nicht bestehen? Jeder weiß zudem, dass viele Menschen unter 18 Jahren viel klüger sind als so mancher Erwachsene.

Erwachsene haben natürlich(!) mehr Lebenserfah­rung. Daraus kann aber nicht geschlussfolgert werden, dass sie reifer, also ihre Entscheidungen klüger sind. Mit zunehmender Erfahrung kann man nämlich auch verfes­tigten Vorurteilen und vereinfachten Weltanschauungen anhängen.

Die Menschen haben schon vor langer Zeit erkannt, dass Wahlen nur gerecht sind, wenn wirklich alle wählen können. Seitdem heißt es »Ein Mensch – eine Stimme«. Am Ende werden die Stimmen gezählt, und gewählt ist, wer die meisten Stimmen bekommen hat. Niemand muss seine Wahlentscheidung begründen. Es gibt auch keine Kontrolle. Von Reife und Klugheit ist keine Rede mehr – außer bei Kindern. Und das ist ungerecht.

Verstehen Kinder genug von Politik?

Heutzutage ist die Politik eine schwierige Angelegenheit. Kaum jemand versteht, wie alle Einzelheiten zusammen­hängen. Selbst die Experten, die Berufspolitiker, sind sich oft uneinig. Zu ein und der selben Frage gibt es meist unterschiedliche Vorschläge. Zum Beispiel: Ist die Auto­bahn durch das Naturschutzgebiet gut oder schlecht? Die Antwort lautet: Es kommt drauf an, wofür! So sind die einen dafür, die anderen dagegen. Wer von beiden versteht nun etwas von Politik?

Außerdem stehen bei Wahlen nur wenige Parteien zur Auswahl. Jeder Wähler überlegt, welche Partei insge­samt, im Großen und Ganzen, seinen persönlichen Vor­stellungen am Nächsten kommt. Das fällt vielen Men­schen schwer, sie müssen sich nämlich für ein Bündel von Zielen entscheiden und nicht nur für oder gegen eine Au­tobahn. Also entscheiden sich viele nach dem Ruf, den die Partei hat und danach, ob sie den Politikern vertrau­en. Manche entscheiden sich auch dafür, gar nicht wäh­len zu gehen. All das können auch Kinder.

Sind Kinder zu sehr beeinflussbar?

Selbstverständlich sind die meisten Kinder beeinflussba­rer als die meisten Erwachsenen. Sie kennen viele Hinter­gründe noch nicht. Deshalb kann Kindern leicht etwas eingeredet werden. Wenn Kinder das Wahlrecht haben, muss das gerade im Wahlkampf sehr ernst genommen werden. Die Gefahr, dass Kinder massenhaft belogen und zu ihrem Nachteil beeinflusst werden, ist aber nicht so groß, wie angenommen wird. Sie werden sich nämlich mit vielen Menschen unterhalten. Sie werden die ver­schiedenen Meinungen vergleichen, die sie zu Hause, in der Schule, auf der Straße und im Fernsehen hören. Da­bei haben plumpe Falschbeeinflussungen keine große Chance. Es wird sich herumsprechen, wer die Kinder hinters Licht führen will, bloß um ein paar Stimmen mehr zu ergattern.

Genügt es, die Altersgrenze ein paar Jahre zu senken?

Es gibt Vorschläge, die Altersgrenze von 18 auf 16 oder 14 Jahre zu senken. Das ist halbherzig. In diesem Fall bleibt zwar nicht alles, aber vieles beim Alten. Die hinzu­kommenden Wähler sind ja schon reif, es sind fast Er­wachsene – diese Haltung steckt dahinter. Tatsächlich sind die älteren Jugendlichen mit vielen Problemen von Kindern gar nicht mehr vertraut, denn sie haben die Schule fast schon verlassen und beschäftigen sich mit ganz anderen Sachen. Viele ältere Jugendliche blicken sogar auf die Jüngeren herab, als seien sie weniger wert. Wird das Wahlalter nur um wenige Jahre gesenkt, be­steht also die Gefahr, dass die Politiker sich nicht viel mehr als bisher um die Kinder und ihre Zukunft zu küm­mern brauchen.

Jede neue Altersgrenze ist außerdem ungerecht für all die Menschen, die unter dieser Grenze liegen. Sie werden weiterhin nicht ganz ernst genommen.

Sollen die Eltern für Kinder wählen, als Stellvertreter?

Manche schlagen vor, dass Kinder zwar das Wahlrecht haben, aber ihre Stimme nicht selbst abgeben sollen. Das Stimmrecht soll bei diesem Vorschlag bei den Eltern blei­ben. Hinter diesem Gedanke steckt, dass der Staat Fami­lien mit Kindern zurzeit weniger hilft als Rentnern und Kinderlosen. Mit den zusätzlichen Stimmen der Eltern soll in der Politik ein Gegengewicht gegen diejenigen Po­litiker und ihre Wähler geschaffen werden, denen die Kinder- und Familienprobleme egal sind. Dieses Gegen­gewicht ist sicher nötig, aber wenn Eltern stellvertretend abstimmen, dann bedeutet das nichts weiter, als dass Kinder bis zum 18. Lebensjahr immer noch nichts zu sa­gen haben. Sie werden weiterhin nicht ernst genommen. Ihre Meinung ist unwichtig. Es kann zwar sein, dass Fa­milien dann zum Beispiel weniger Steuern zahlen müs­sen. Aber ob das den Kindern zugute kommt, das ent­scheiden wieder die Erwachsenen.

Zahlreiche Eltern verlangen zum Beispiel von der Schul-, Friedens-, Umwelt- und Finanzpolitik ganz ande­re Entscheidungen, als ihre Kinder das tun würden, wenn sie selbst wählen dürften. Wie jeder aus eigener Er­fahrung weiß, haben Eltern und Kinder häufig sehr un­terschiedliche Vorstellungen von der Welt.

Wollen Kinder überhaupt wählen?

Diese Frage wird immer wieder gestellt, weil viele Ju­gendliche bei Umfragen sagen, dass sie gar nicht wählen wollen. Das kommt vermutlich daher, dass viele an den Gedanken gewöhnt sind, unmündig und ausgeschlossen zu sein. Vielleicht liegt es auch daran, dass nicht viel zur Aus-Wahl steht und der Wahlkampf in der heutigen Zeit langweilig ist. Aber selbst, wenn sie nicht wählen wollen, wäre das kein Grund, ihnen das Wahlrecht nicht zu ge­ben oder wegzunehmen. Es wird auch niemandem das Recht auf Versammlungsfreiheit weggenommen, bloß weil er sich nicht mit anderen versammeln will. Außer­dem darf das Wahlrecht auch nicht von einer Mehrheit der Kinder und Jugendlichen abhängen. Was soll denn dann die Minderheit dazu sagen? Was tun, wenn ein ein­ziges Kind wählen will? Wahlrecht bedeutet: Wenn ich wählen möchte, darf mich keiner daran hindern.

Was wird sich durch das Kinderwahlrecht verbessern?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Parteien und Po­litiker mehr um Kinder und deren Interessen kümmern. Sie werden deshalb ihre Wahlprogramme und ihre Poli­tik ändern müssen und neue Themen aufnehmen, zum Beispiel die Schule interessant machen. Und sie müssen in klareren Worten sprechen. Wenn sie ihre Politik nicht verständlich erklären, werden sie die Kinder nicht über­zeugen. Das ist übrigens auch für die Erwachsenen gut, denn selbst die verstehen heutzutage oft nicht, was die Politiker eigentlich meinen. Außerdem – und das ist viel­leicht das Wichtigste – werden alle Menschen anfangen, Kinder ernster zu nehmen als bisher. Es wird sich herum­sprechen, dass Kinder auch vollwertige Menschen sind, die mitbestimmen. So wie damals, als die Frauen das Wahlrecht erhielten, werden es diesmal die Kinder sein, die allmählich immer seltener von oben herab behandelt werden. Sie werden sich deshalb auch selbst nicht mehr fühlen wie halbe Menschen, auf die nicht gehört zu wer­den braucht. Alle werden erkennen, dass die Gleichbe­rechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen – nicht nur in der Politik – die beste Art ist, ein glückliches Leben zu führen. Kinder, die von Anfang an gerecht behandelt werden, sind vermutlich auch als Erwachsene freundlich zu ihren Kindern.

Mit dieser schönen Aussicht beende ich das erste Kapi­tel. Die wichtigsten Fragen und Antworten habt Ihr also schon gelesen. Es gibt natürlich noch viele Einzelheiten zu besprechen. Um die geht es jetzt Stück für Stück in den folgenden Kapiteln. Aber Achtung! Ab jetzt kommen lange Sätze und Fremdwörter vor.


1 Im Artikel 21 der UNO-Menschenrechtserklärung steht: Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen.