10. Welche Schritte führen zum Kinderwahlrecht?

Der Gerichtsweg

Verfassungsbeschwerde

Das aktive Wahlrecht ist ein politisches Grundrecht. Grundrechte sind nicht von Mehrheiten abhängig. Sie stehen dem einzelnen Bürger unmittelbar zu und sind einklagbar. Dieser Gedanke kam 1994 einigen Jugendli­chen der Berliner Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä.142 Aus ihren Reihen wählten sie zum Erheben der Klage ei­nen 13-jährigen und einen 16-jährigen Jugendlichen aus. Zuständig war das Bundesverfassungsgericht. Die Ver­fassungsbeschwerde wurde am 23. August 1995 einge­reicht.143 Die vorgetragenen Anträge lauteten:

I. »Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführer durch den auf Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz beruhen­den Ausschluss vom aktiven Wahlrecht in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf Teilhabe an der Ausübung der Staatsgewalt gem. Art. 20 Abs. 2, Satz 1, Satz 2 1. Teilsatz und Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werden.

II. Es wird festgestellt, dass Art. 38 Abs. 2, 1. Halb­satz GG wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 2, Satz 1, Satz 2 1.Teilsatz, Art. 1 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist.«

Die Verfassungsbeschwerde berief sich also auf den in Kapitel 4 dargelegten inneren Widerspruch in der Verfas­sung. Die Klage ist gescheitert, weil sie vom Bundesver­fassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Zur Begründung verwiesen die Obersten Richter »im Namen des Volkes«144 auf die nicht eingehaltene Jahresfrist des Paragrafen 93 des Bundesverfassungsge­richtsgesetzes.145

Die Kläger kritisierten das Urteil, weil der vom Gericht angeführte Präzedenzfall mit ihrem Fall nichts zu tun habe: Des weiteren vertrete das Gericht einen Stand­punkt, der eine juristische Änderung von Normen des Grundgesetzes durch Verfassungsbeschwerden von vornherein ausschließt. So könne hier die Frage aufge­worfen werden, ob das Gericht nicht durch die Verwei­gerung der Verhandlung gegen Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes verstoße (»Wird jemand durch die öf­fentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.«).146 Es ist aber müßig, das um­strittene Urteil zu analysieren, da es unanfechtbar ist.

Eintrag im Wählerverzeichnis

Um dem Einwand der Fristüberschreitung des Bundes­verfassungsgerichts zu begegnen, beantragten die Ju­gendlichen von K.R.Ä.T.Z.Ä. die Eintragung ins Wahl­verzeichnis beim zuständigen Wahlamt. Von vornherein rechneten sie mit einer Ablehnung, aber mit der Ableh­nung ihres Antrags hätten sie einen Bescheid erwirkt, der – so die Auffassung der Kinderrechtler – verfassungs­widrig sei, da er gegen die Staatsfundamentalnorm des Artikels 20 (2) verstoße.

Nach dem Erhalt des Ablehnungsbescheids klagten sie vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Die Klage wurde für unzulässig befunden und abgewiesen, weil das Ver­waltungsgericht nicht in die Durchführung der Bundes­tagswahl eingreifen dürfe. Ein »zu abstrahierendes Fest­stellungsinteresse«, auf dem die Kläger beharrten, denn es ging ja um die allgemeine Frage der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von der Wahl für Unter-18-jährige, wurde vom Gericht – formal juristisch – verneint. Damit war der Rechtsweg erneut abgeschnitten.

Wahlanfechtung

Wenn Kinder und Jugendliche nicht mitwählen durften, obwohl das ihr verfassungsmäßiges Grundrecht ist, dann ist der Bundestag nicht rechtmäßig gewählt worden – lautete die nächste Überlegung von K.R.Ä.T.Z.Ä.

Drei Jugendliche von K.R.Ä.T.Z.Ä., zum Zeitpunkt der Bundestagswahl im Alter von 13, 17 und 18 Jahren, beantragten beim Deutschen Bundestag, »die Bundes­tagswahl 1998 wegen verfassungswidriger Beschrän­kung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten für ungültig zu erklären und die sich daraus ergebenden Folgerungen festzustellen«.147

Der Deutsche Bundestag wies den Einspruch »teilwei­se gemäß § 2 Abs. 2 WPrüfG als unzulässig und teilweise gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 WPrüfG als offensichtlich unbe­gründet zurück«. Unzulässig sei er im Fall der beiden jün­geren Einspruchsführer, da diese nicht wahlberechtigt seien. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, da es ja gerade darum ging, festzustellen, dass sie wahlberechtigt sind. Im Fall des zum Zeitpunkt der Wahl bereits 18­jährigen Einspruchsführers sei der Einspruch »offen­sichtlich unbegründet«, da die behauptete Verfassungs­widrigkeit üblicherweise148 der Kontrolle des Bundes­verfassungsgerichts vorbehalten bleibe. K.R.Ä.T.Z.Ä. zog erneut vor das Bundesverfassungsgericht.149 Das hat diese Wahlprüfungsbeschwerde am 2. November 2000 als »offensichtlich unbegründet« verworfen. Zur Be­gründung ihres Urteils150 führten die Richter an: »Be­grenzungen des allgemeinen Wahlrechts sind ›verfas­sungsrechtlich zulässig, sofern für sie ein zwingender Grund besteht‹.151 Es ist von jeher aus zwingenden Gründen als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters ge­knüpft wird.«

Rechtsanwalt Dr. Peter Merk, als Vertreter der Kläger, kommentierte den Ausgang des Verfahrens mit den Wor­ten: »Das Gericht hat in eklatanter Weise gegen seine Verantwortung, Hüter einer dynamischen Verfassung zu sein, verstoßen. Es entsteht der Eindruck, dass sich der 2. Senat des Gerichts, was das Wahlrecht betrifft, als Wärter einer musealen, längst nicht mehr zeitgemäßen Altersgrenze versteht und sich ohne Begründung über die Tatsache hinwegsetzt, dass auf diese Weise das politi­sche Grundrecht der aktiven Wahl einer gesamten Bevöl­kerungsgruppe ohne erforderlichen zwingenden Grund vorenthalten bleibt.«152 Für weitere rechtliche Schritte auf dem Weg zum Kinderwahlrecht stehen die Chancen damit schlecht.

Die öffentliche Debatte

In Deutschland

Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit könnte der Gesetzge­ber die Verfassung im Sinne des Kinderwahlrechts jeder­zeit von sich aus und ohne Urteil des Bundesverfassungs­gerichts ändern. Davon sind wir aber weit entfernt. Bisher ist das Kinderwahlrecht weder in der Bevölke­rung noch bei den Abgeordneten mehrheitsfähig. Des­halb muss die öffentliche Debatte geführt und unter­stützt werden, die Pro und Kontra aufgreift.

Der im vorigen Abschnitt dargestellte Streit vor den Gerichten soll nicht als taktische Maßnahme für die not­wendige öffentliche Auseinandersetzung herabgewür­digt werden. Aber zweifellos haben die juristischen Ver­fahren durch das Interesse, das die Medien daran entwickelt haben, katalytische Wirkung in der Öffent­lichkeit entfaltet.153

Darauf hat die Gruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. durch zahlreiche Presseinformationen, ihr Internetangebot, eine Liste prominenter Unterstützer und sonstige Aktionen hinge­wirkt. So wies sie auf einer Festveranstaltung im Roten Rathaus von Berlin dem Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes Walter Wilken nach, dass dessen Kritik am Kinderwahlrecht nicht haltbar ist.

Übertrüge man sie auf die Situation von Menschen mit Behinderungen, wäre ihr zutiefst behindertenfeindlicher Charakter offensichtlich, konnte der Vertreter von K.R.Ä.T.Z.Ä. dem Funktionär des Kinderschutzbundes vor versammeltem Publikum unwidersprochen entge­genhalten.

Ein konstruktiver Vorschlag, der kurzfristig umgesetzt werden könnte, kommt von K.R.Ä.T.Z.Ä.-Mitstreiter Martin Wilke. Da das Kommunalwahlrecht – wie in ei­nigen Bundesländern seit mehreren Jahren praktiziert – einfaches Landesrecht ist und keine Grundgesetzände­rung erfordert, könnte in einem Bundesland das Wahlal­ter auf Null gesetzt werden. Vielleicht lässt sich ein der­artiges, wissenschaftlich begleitetes Pilotprojekt zur Vermeidung von Panik zunächst, ähnlich wie ein Schulversuch, zeitlich beschränken.

Andere konstruktive Vorschläge werden nicht lange auf sich warten lassen.

Mit einer bundesweiten Unterschriftenkampagne un­ter dem Motto »Ich will wählen« wendet sich seit dem Frühjahr 2002 ein Zusammenschluss zahlreicher Orga­nisationen an alle Kinder und Jugendlichen in Deutsch­land. Am Ende der Aktion wird eine Petition beim Bun­destag eingereicht, in der Unter-18-jährige das Wahl­recht verlangen. Auch Erwachsene können sich der Peti­tion anschließen.154

Im Ausland

In den USA und Kanada arbeiten einige Gruppen an um­fassenden Konzepten, um für Kinder grundsätzliche ge­sellschaftliche Verbesserungen zu erreichen. »Americans for a Society Free from Age Restrictions« (ASFAR) for­dert, dass niemand auf Grund seines Alters in seiner Frei­heit eingeschränkt wird. Hinsichtlich des Wahlrechts vertritt die Gruppe die Abschaffung der Altersgrenze, formuliert jedoch auch die »Absenkung des Wahlalters« als Alternative (www.asfar.org). YouthSpeak ist eine Gruppe von jungen Menschen mit ähnlichen Forderun­gen (www.oblivion.net/youthspeak).

Die Association for Children's Suffrage schreibt: »We call for a simple universal criteria for voting: citizenship and sufficient interest to register and then vote on elec­tion day.«155 Die Forderung deckt sich mit dem Kon­zept, das von mir vertreten wird. Ähnlich grundsätzlich sieht es auch die Canadian Youth Rights Association (CYRA, www.cyra.org).

Sicherlich sind diese Organisationen allein nicht in der Lage, das Blatt zu wenden. Ihre Aktivitäten beweisen aber, dass ein gesellschaftlicher Diskurs begonnen hat, an dessen Ende das Wahlrecht für Kinder Wirklichkeit werden kann.

»Wer politische Freiheiten zu eng oder gar ausschließ­lich an den bereits existierenden Rechtsstaat bindet, ver­kennt nicht nur die politische Wirksamkeit der Freiheits­idee, die jederzeit ergriffen und eingeklagt werden kann. Er spricht auch allen Bürgerrechts- und Freiheitsbewe­gungen in Diktaturen aller Art jede wirkliche Macht ab, nimmt dem Widerstand, der immer und überall möglich ist, seine Würde.«156 Beruft man sich auf diese Freiheits­idee, sind viele Wege offen, um dem Ideal einer wirkli­chen Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen näher zu kommen.


142 KinderRÄchTsZÄnker
143 Merk 1995
144 Obgleich eine juristische Floskel, wurde diese Formulierung von den Kinderrechtlern als Witz aufgefasst, da Kinder und Jugendliche auch zum Volk gehören und das Gericht deren Legitimation nicht besitzt.
145 § 93(3) (BVerfGG) lautet sinngemäß: Richtet sich die Verfassungsbe­schwerde gegen ein Gesetz oder gegen einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offen steht, kann sie nur binnen eines Jahres erhoben werden. – K.R.Ä.T.Z.Ä. dokumentiert alle wichtigen Texte im Internet: www.kraetzae.de
146 Pressemitteilung von K.R.Ä.T.Z.Ä. vom 29.1.1996
147 Einspruchsschrift von RA Peter Merk v. 17.11.1998
148 »Seit der 1. Wahlperiode ständige Praxis des Deutschen Bundestages«, Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 1.
149 Wahlprüfungsbeschwerde gem. § 48 BverfGG vom 18.11.1999
150 Aktenzeichen 2 BvC 2/99
151 BVerfGE 28, 220, <225>; 36, 139 <141>
152 www.kraetzae.de/3wkurt.htm
153 Als Höhepunkt kann sowohl die Pressekonferenz von K.R.Ä.T.Z.Ä. an­lässlich der Einreichung der Verfassungsbeschwerde 1995 gelten, zu der sieben Fernsehstationen und über 60 Journalisten erschienen waren, als auch ein 45­Minuten Film im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (»Menschen hautnah: KRÄTZÄ«, 23.4.1998, WDR und Wiederholungen auf anderen Sendern).
154 www.ich-will-waehlen.de
155 Wir verlangen ein einfaches universelles Kriterium für das Wählen: Staats­bürgerschaft und genügendes Interesse, sich zu registrieren und dann am Wahltag zu wählen. (ACS –www.brown.edu/Students/Association_for_Child­rens_Suffrage)
156 Beck 1997, S. 52