11. Bilanz

»Jeder Mensch, der wählen möchte, darf – unabhängig von seinem Alter – nicht daran gehindert werden.« Das ist die Forderung, die im Mittelpunkt dieses Buches steht. Natürlich ist sie kein Selbstzweck. Sie richtet sich gegen den Mangel an Gleichberechtigung, Demokratie und anderen Werten, die in den Reden der Pädagogen und Politiker immer so hoch gehalten werden. Gerade Kinder sind nach wie vor Objekte von Entscheidungen Erwachsener. Für die meisten gelten weder in der Schule noch zu Hause die demokratischen Prinzipien unserer Gesellschaft. Auf der Suche nach einem Ansatzpunkt, in diesen Fragen einen spürbaren Fortschritt zu erzielen, hörte ich vor vielen Jahren von der Idee, Kinder bei Wahlen höchstpersönlich mitbestimmen zu lassen. Wer die Abschaffung der Altersgrenze beim Wahlrecht for­dert, ist mit einer großen Zahl unterschiedlichster Fra­gen konfrontiert. Sind Kinder nicht politisch zu unreif? Werden sie nicht durch die Eltern manipuliert? Ist das rechtlich überhaupt möglich? Führt das nicht zu einer Überforderung? Verbessern sich die Chancen der radi­kalen Parteien? Viele Menschen befürchten gar die Ge­fährdung der Demokratie.

Das Buch hat versucht, alle Argumente zusammenzu­tragen, die für eine entsprechende Änderung des Wahl­rechts von Bedeutung sind. Dabei sind die zahlreichen Einwände sehr ernst genommen worden. Die mit dem Kinderwahlrecht möglicherweise verbundenen Risiken müssen umfassend theoretisch geklärt werden, bevor man dazu übergehen kann, es in der Praxis zu erproben.

Lässt sich die Forderung nach einem Wahlrecht für Kinder nach Beantwortung all dieser Fragen aufrecht er­halten? Welche wesentlichen Erkenntnisse haben die Auseinandersetzung mit den Chancen und die Abschät­zung der Risiken erbracht?

Die Durchsetzung eines wirklichen Kinderwahlrechts ohne Stellvertretung und ohne partielle Wahlaltersen­kung ist im Rahmen unseres Grundgesetzes rechtlich möglich.

Menschenrechtliche Überlegungen ergeben, dass es demokratischen Prinzipien widerspricht, Kindern das Wahlrecht mit dem Hinweis auf die fehlende Qualifika­tion vorzuenthalten. Die verbreitete, aber falsche Über­zeugung, dass auch an Grundrechte Pflichten geknüpft sind, wird beim Wahlrecht durch die unsinnige Sprach­regelung von der »Ausübung des Wahlrechts« verstärkt. Wählen ist zwar eine Tätigkeit, das Wahlrecht aber nicht. Es kann nicht »ausgeübt« werden, sondern ist ein Grund- und Menschenrecht, dass jedem allein durch sein Menschsein zusteht.

Das Stellvertreterwahlrecht und die partielle Senkung des Wahlalters – die üblichen Forderungen – erscheinen bei genauem Betrachten als kontraproduktiv und unaus­gewogen.

Das in diesem Buch entwickelte Szenario einer Gesell­schaft ohne Wahl-Altersgrenze ergibt hingegen kaum das Gemeinwohl bedrohende Probleme. Weder Gesetz­geber noch Wahldurchführung, weder Parteien und Poli­tiker noch Massenmedien, weder Eltern und sonstige Be­zugspersonen von Kindern und Jugendlichen noch diese selbst werden durch die Streichung der Altersgrenze vor unlösbare Probleme gestellt.

In der Öffentlichkeit hat ein Diskussionsprozess über die Abschaffung der Altersgrenze begonnen, unterstützt von Initiativen mehrerer Jugend- und anderer Organisa­tionen, der nicht mehr zurückzuschrauben ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Gleichberechtigung von Kin­dern und Erwachsenen der Schlüssel zu einer friedlichen und glücklichen Welt ist. Mit allen Mitteln müssen wir versuchen, das historisch zu Lasten der Kinder entstan­dene Machtgefälle zu beseitigen. Dazu kann die Ver­wirklichung des Kinderwahlrechts viel beitragen.