2. Wer interessiert sich für das Kinderwahlrecht?
Wer interessiert sich schon für das Kinderwahlrecht!? Seit Jahren gerät das Thema zwar immer wieder kurzzeitig in die Presse, aber ein ganzes Buch dazu erscheint vielen Menschen unangemessen, wozu also der Aufwand?
Ich möchte, dass die Vorteile eines echten Kinderwahlrechts zur Kenntnis genommen und nachvollziehbar werden. Ich habe im Laufe der Zeit viele Menschen getroffen, die sich zu aktiven Verfechtern des Wahlrechts für Kinder entwickelt haben. Das Kinderwahlrecht ist zurzeit zwar noch nicht mehrheitsfähig, aber wenn die Vorzüge bekannt werden und sich herumspricht, dass der praktischen Umsetzung nur geringe Probleme im Weg stehen, dann kann sich auch das ändern.
Seit über zehn Jahren befasse ich mich mit dem Wahlrecht für Kinder und diskutiere mit vielen Menschen darüber. Viele Gegenargumente habe ich schon tausend Mal gehört. Die spontane Abwehrhaltung gegen die Vorstellung, dass Kinder Wahlbürger werden sollen, ist mir vertraut. Ehe man bereit ist, über das Kinderwahlrecht zu sprechen, muss man einige seiner persönlichen Gewiss-heiten in Frage stellen. Das fällt bekanntlich nicht leicht. Hier geht es gleich um zwei große Fragen der Menschheit: die Demokratie und die Kinderfrage. Beides sind komplizierte Dinge, die von den meisten Menschen nebenbei gelernt und verstanden werden müssen. Die wenigsten sind Experten, obgleich jedem dazu eine Meinung abverlangt wird. Was Kinder sind, wie Kinder erzogen werden müssen – das weiß doch jeder! Warum, wie und was gewählt wird, wie das Wahlsystem gedacht ist und funktioniert, auch das ist – vorgeblich – Allgemeingut. Im Einzelfall mögen Wissenslücken eingeräumt werden: Wer weiß schon, welche Grenzen für Kinder die richtigen sind oder was der Sinn von Erst- und Zweitstimme ist?! Aber deshalb gleich zugeben, dass man eigentlich keine Ahnung hat? Also werden alte Überzeugungen übernommen und Klischees verteidigt, die ganz plausibel klingen, an die man gewöhnt ist. Leicht ist man damit auf der Seite der Mehrheit, der Erfahrung oder – wie es das Bundesverfassungsgericht im Falle des Wahlalters nennt – der »historischen Erhärtung«. »Es war schon immer so«–diese Auffassung taugt jedoch nicht im Zeitalter von Weltraumfahrt und Globalisierung.
In welchem Stadium befindet sich die Debatte um das Kinderwahlrecht gegenwärtig? Das Wahlalter bei Kommunalwahlen liegt in einigen Bundesländern inzwischen bei 16 Jahren. Die Sache ist in Bewegung gekommen. Könnte man meinen. Manche Leute nennen diesen Schritt aber unlogisch und halbherzig. Sie fordern – so wie ich – die völlige Abschaffung der Altersgrenze und finden sogar Unterstützung bei anerkannten Persönlichkeiten und Institutionen wie der ehemaligen Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit und einer der großen deutschen Kinderhilfsorganisationen, dem Deutschen Kinderhilfswerk. Ein Mensch – eine Stimme, dieses Grundprinzip der Demokratie ist nicht erfüllt, so begründen sie unter anderem ihren Einsatz.
Ohne Altersgrenze geht es nicht, sagen die anderen. Kinder würden den größten Unsinn ankreuzen; je jünger, umso schlimmer. Sie wären durch das Wahlrecht ihrer ungestörten Kindheit beraubt, die zum Spielen und nicht zum Politik-Machen da sei und so weiter. Die Verteidiger des Status quo berufen sich auf den gesunden Menschenverstand. Manche sind fassungslos. Wie können sich die Befürworter des Kinderwahlrechts diesen – und einigen anderen – Argumenten nur verschließen?2
Die Auseinandersetzung fällt in eine Zeit, in der immer mehr Menschen zu der Überzeugung kommen, dass Kinder und Jugendliche wichtige und bisher vernachlässigte Mitglieder unserer Gesellschaft sind. Die politische Beteiligung von Kindern ist zum Dauerbrenner in den Fachdebatten der Pädagogen, Sozialarbeiter, Soziologen, aber auch der Stadtplaner, Kommunalpolitiker und jüngst sogar von Bundestagspräsident, Bundesregierung und Europäischer Union geworden. Es weht ein neuer Wind; Kinder werden ernster genommen als noch vor wenigen Jahren. Immer öfter ist die Rede vom Subjektstatus der Kinder. Kinderrechte sind Menschenrechte, so das Motto der »National Coalition« zur Durchsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland. Das »Aktionsbündnis Kinderrechte«, bestehend aus den vier größten deutschen Kinderhilfsorganisationen, veranstaltet bundesweit »Kinderrechtewahlen« und eine »Karawane für Kinderfreundlichkeit« zieht mit riesigen Trucks durchs Land. »Kinder haben Rechte« heißt eine ZDF-Fernsehserie. Wortungetüme wie »Bundesinitiative Beteiligungsbewegung« und »Servicestelle Jugendbeteiligung« machen die Runde. Fast könnte man meinen, ein Ruck sei durch unser Land gegangen.
Doch Zweifel sind angebracht und vor zu großem Optimismus muss gewarnt werden. Die Zugeständnisse, die Kindern neuerdings gemacht werden, finden fast nur innerhalb von Kinderinstitutionen und in manchen Familien statt. Und selbst dort grenzen pädagogische Überlegungen Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung ein. Um sie an gesellschaftlichen Entscheidungen zu beteiligen, fehle den Kindern Kompetenz und Reife, lauten die Bedenken.
Tatsächlich bewirken die für Kinder und Jugendliche geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen immer noch ihre Ausgrenzung aus dem Erwachsenenleben. Sogar Jugendorganisationen wie die BundesschülerInnenvertretung, in denen kleine Kinder keine Rolle spielen und etliche Mitstreiter schon über 18 Jahre alt sind, kämpfen laufend um ihre Anerkennung. Ob der Grund hierfür die Orientierung am (nebulösen) Begriff des Kindeswohls ist, oder ob bloß die Störung der »ernsthaften« Welt der Erwachsenen vermieden werden soll, kann dahingestellt bleiben. Die Formel von der »Nutzlosigkeit, ein Spielkind zu sein«3 bringt es auf den Punkt. Selbst die nicht zu leugnende naturgegebene Entwicklungstatsache, dass Kinder auf Schutz, Versorgung und Unterstützung angewiesen sind und über weniger Erfahrung und Wissen verfügen als Erwachsene, kann diese Ausgrenzung nicht rechtfertigen.
Wenn Kinder wirklich ernst genommen werden müssen, stellt sich die Frage, wie das geschehen soll. Das Kinderwahlrecht stellt in diesem Kontext eine Art Prüfstein dar. Die bisher zu diesem Thema geführte Debatte ist ungeordnet und in vielen Punkten nicht über ihre Anfänge hinausgekommen. Besonders diejenigen Probleme und Interessen von Kindern, die deren unmittelbare Gegenwart betreffen, kommen dabei zu kurz. Eher stehen die langfristig zu erwartenden finanziellen und ökologischen Probleme der Gesellschaft im Vordergrund. Wird eine Lösung in Angriff genommen, wird sie in Stellvertretermodellen wie der Übertragung des Stimmrechts der Kinder auf die Eltern oder in der Senkung des Wahlalters um ein, zwei Jahre gesucht.
Gegen das Kinderwahlrecht scheint auch zu sprechen, dass die Gesetzgebung zum Wahlrecht durch große Regelungsdichte und Formstrenge gekennzeichnet ist. Änderungen sind schon deshalb mit Schwierigkeiten verbunden. Andererseits gibt es kein »richtiges« Wahlrecht. Die in der Vergangenheit vollzogenen Änderungen am Wahlrecht belegen, das ewig geltende Grundsätze nicht existieren, denn im Spannungsfeld von Politik und Recht werden staatsrechtliche, verfahrensrechtliche und organisatorisch-technische Normen immer wieder neu festgelegt. So gehört das Wahlrecht zu den Rechtsdisziplinen, die in hohem Maße von sich verändernden politischen und verfassungsrechtlichen Entwicklungen abhängig sind.4
Hier knüpft dieses Buch an. Es unterbreitet aus kinderund jugendpolitischer sowie menschenrechtlicher Perspektive einen Vorschlag für ein Kinderwahlrecht ohne Stellvertretung.