3. Was lässt sich vom Kinderwahlrecht erhoffen?

Allen großen Änderungen staatlicher Regeln haften Un­sicherheiten an. Auch die Verbesserungen und gegebe­nenfalls Verschlechterungen der gesellschaftlichen Ver­hältnisse nach der Einführung eines Kinderwahlrechts lassen sich nicht genau vorhersagen. Die Risiken unter­suche ich vor allem im Kapitel »Wie soll das Kinder­wahlrecht praktisch funktionieren?«

Was aber spricht für das Kinderwahlrecht? Wie argu­mentieren seine Befürworter, wenn sie sich trotz der teil­weise unbekannten Auswirkungen für Änderungen am hochkomplexen politischen System einsetzen?

Einige Fürsprecher verweisen rein formal (»prinzipi­engestützt«) auf juristische und demokratietheoretische Argumente. Sie berufen sich auf die Formel: »Ein Mensch – eine Stimme«, also auf den Allgemeinheits­grundsatz, das zentrale Element des Demokratieprin­zips, der zwar im Grundgesetz festgeschrieben, aber nicht erfüllt ist. Darum wird es in den nachfolgenden Ka­piteln gehen.

Andere Befürworter orientieren sich an den prakti­schen Konsequenzen der Wahlrechtsänderung. Einer­seits versprechen sie sich Verbesserungen der jeweils ak­tuellen Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendli­chen. Andererseits streben sie eine gerechtere Familien-und Zukunftspolitik an. Beide Probleme möchte ich in den beiden nächsten Abschnitten umreißen, um zu ver­deutlichen, wo und warum Änderungen notwendig sind.

In der Gegenwart

»Ich bin in Bayern auf dem Land aufgewachsen. Ich musste bis zum zehnten Lebensjahr an Schultagen um sieben Uhr ins Bett. Das habe ich übernommen«, ant­wortete Kanzlergattin Schröder-Köpf auf die Frage, ob sie eine strenge Mutter sei.5

Lafontaine-Gattin Christa Müller findet einen Klaps »ganz okay«. Sie gab ihrem Sohn Carl Maurice (2) einen Klaps und verzieh ihm nicht, bis er sich entschuldigte. »Das geht nicht anders, da muss man gegen seine Ge­fühle Härte zeigen«, sagte sie mit Billigung ihres Ehe­mannes.6

1,4 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden in Deutschland jährlich von ihren Eltern miss­handelt. Nimmt man körperliche Züchtigungen wie den »Klaps auf den Po« und die Ohrfeigen dazu, kommt der Kinderschutzbund auf elf Millionen Minderjährige pro Jahr.7

Die Ohrfeige ist die häufigste Form der häuslichen Er­ziehungsstrafen (81,2 Prozent). Der Vergleich mit ande­ren Strafen wie Fernsehverbot (66,7 Prozent), Ausgeh­verbot (64,2 Prozent), Niederbrüllen (52 Prozent), Kürzung des Taschengeldes (34,5 Prozent) und Schwei­gen (36,9 Prozent) zeigt die herausgehobene Bedeutung der »leichten« Züchtigung im familialen Alltag. Nach den Selbstreports der Jugendlichen haben sogar 43,5 Prozent schon schwerere Formen wie deftige Ohrfeigen und 30,6 Prozent eine Tracht Prügel erfahren.8

Bis zu 30 Prozent der bundesdeutschen Schüler leiden an Beschwerden, über die auch Manager klagen könn­ten: Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Kopf-und Magenschmerzen. Schon bei unter Zehnjährigen treten Essstörungen wie Magersucht und Bulimie auf.9

Etwa 70.000 Kinder und Jugendliche verweigern in Deutschland den Schulbesuch. In Großstädten gibt es Extremfälle, in denen bis zu einem Drittel der Schüler dem Unterricht fernbleibt. Nicht gemeint sind damit spo­radische Abwesenheit oder bloße physische Teilnahme am Unterricht ohne innere Aufmerksamkeit, sondern die strikte Verweigerung über Monate oder Jahre.10

Rund vier Millionen Erwachsene in Deutschland kön­nen nicht oder nicht ausreichend lesen und schreiben.11 Der Verein »Lesen und Schreiben« vermutet, dass die Dunkelziffer noch einmal so hoch liegt.12

In Deutschland werden jährlich über 900 Millionen € für Nachhilfeunterricht ausgegeben.13

»Um ein Viertel der deutschen Schüler muss man sich wirklich Sorgen machen«, sagt Andreas Schleicher, der Pisa-Koordinator der OECD in Paris. Deren Lesetest-Versagen zeige, dass sie den Anschluss ans Leben, an die Herausforderungen in Familie, Beruf und Gesellschaft wahrscheinlich nicht schaffen werden.14

In Berlin beendeten in den zehn Jahren von 1988/89 bis 1997/98 im Durchschnitt 15 Prozent der Schüler ihre Schulzeit ohne Abschluss.15

Erziehung

Wie man es auch dreht und wendet, Kindern in Deutsch­land widerfährt nicht nur Gutes. Kinder sind Objekte staatlichen und elterlichen Handelns – de jure und de facto. Die Zitate und Zahlen machen es unmöglich, die Probleme zu verharmlosen und als Ausnahmen abzutun.

Dazu kommt, dass bei der Bewertung von Gewalt in der Familie alltägliche Strafen wie Fernsehverbot, Ins-Bett­gehen-müssen, Taschengeldkürzung, Strafarbeiten, An­brüllen, Erpressen und Stubenarrest ebenso wenig ernst genommen werden wie Einmischung in die kindliche Ordnung, Kleidung und Frisur, das Verbot bestimmter Freunde, das Öffnen von Briefen oder der Zwang aufzu­essen.

Gegen einen Teil dieser Tatbestände, auch gegen die Ohrfeige und den Klaps, werden Kinder gesetzlich seit jüngster Zeit geschützt. Die rot-grüne Regierung änderte den entsprechenden Paragrafen (§1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches), in dem es nun heißt: »Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafun­gen, seelische Verletzungen und andere entwürdigen­de Maßnahmen sind unzulässig.« Diese Formulierung greift die zahllosen Demütigungen auf, denen Kinder ausgesetzt sind; sie stellt fraglos einen Fortschritt in der rechtlichen Situation von Kindern dar, bleibt aber den­noch halbherzig.

Erziehen heißt, Kinder zu einem von den Eltern ge­wünschten Verhalten und möglichst zu entsprechenden Überzeugungen zu bringen. »Schlecht erzogene« Kinder machen Sachen, die sie nicht tun sollen. Was aber tun, wenn das Kind nicht tut, was es soll? Dann müssen »Maßnahmen« ergriffen werden. Erwachsene, die ihre Übermacht ausnutzen und Gewalt androhen oder ein­setzen, setzen »entwürdigende Maßnahmen« ein.16

Folglich ist die Neufassung des §1631 BGB immer noch widersprüchlich: Gewaltfrei ist Erziehung nämlich nicht zu haben. Folgende Formulierung könnte dieses Problem lösen: »Kinder haben das Recht, gewaltfrei aufzuwach­sen. Eltern und Kinder sind gleichberechtigt.«

Vorläufig fehlt den Politikern der notwendige Mut zu diesem Vorschlag. Die eigene Erfahrung verstellt den Menschen, auch den verantwortlichen Politikern, den Blick auf diese Problematik. »Bislang hat man angenom­men, dass das Schlagen etwas Selbstverständliches ist, weil man selbst geschlagen wurde. Andere Gründe gibt es dafür nicht.«17 Das gilt sinngemäß auch für andere Erziehungsmethoden. Solange diese Behauptung nicht widerlegt ist, kann man nur wünschen, dass endlich die Kinder gefragt werden, wie sie behandelt werden wollen. Verfügten Kinder über das Wahlrecht, müssten die übli­chen Erziehungs-»Maßnahmen« ernsthaft diskutiert werden, denn kein aufgeklärtes Kind will mit den ge­nannten Methoden behandelt werden.18

Schule

Schauen wir auf das Schulwesen. Auch hier sprechen die genannten Zahlen Bände. Kinder und Jugendliche unter­nehmen viel, um sich dem Stress des Schulalltags zu ent­ziehen. Der Grund ist kaum in ihrem »fehlenden Bil­dungswillen« zu suchen, sondern in Mängeln des deut­schen Schulsystems, die durch Stichworte wie Zwangs-lernen, Fremdbestimmung, Lebensfremdheit, Massen­abfertigung, Angst und Langeweile umrissen werden können.

Die Schule ist unendlich weit entfernt von einer Insti­tution, die Kindern und Jugendlichen effektiv hilft, sich Wissen und soziale Kompetenzen anzueignen. Der Kri­tiker der Pädagogik Ekkehard von Braunmühl hat ein­mal bissig formuliert: »Wer die Vergewaltigung der Kör­per und Seelen junger Menschen, die das bestehende Zwangsschulsystem darstellt, in Zukunft noch vertei­digt, ist selbst der Beweis dafür, was es anrichtet.«19

Hat man jemals die Schüler gefragt? In der Schule gibt es Mitbestimmung nur als Alibi unter undemokrati­schen Bedingungen: Das wichtigste Schulgremium, die Schulkonferenz, wird laut Gesetz nur zu einem Drittel von Schülern besetzt, obwohl Schüler die übergroße Mehrheit in der Schule bilden. In den Berliner Grund­schulen haben sie nicht einmal ein Stimmrecht. Die Kom­petenz der Schulkonferenz ist im Übrigen ziemlich ge­ring. Entschieden werden können nur nachrangige De­tails, Grundsätze stehen nicht zur Debatte. Wegen des Risikos, das immer mit wesentlichen Veränderungen ver­bunden ist, ließe sich die Starrheit des deutschen Staats­schulwesens vielleicht verstehen. Angesichts der Erfah­rungen in anderen Ländern ist das aber verfehlt, denn längst gibt es weltweit zahlreiche demokratische Schu­len, in denen mit Erfolg nahezu alle schulischen Abläufe anders organisiert sind als hier zu Lande.20 Wer will be­streiten, dass das Kinderwahlrecht die Politik nötigen würde, das Bildungswesen durch die Brille der Kinder zu betrachten und endlich flexibler zu gestalten?

Doch die Lage der Kinder lässt sich nicht nur im Erzie­hungsalltag und in der Schule verbessern. Das Recht auf Eigentum, das Recht auf freie Wahl seiner Umgebung, das Recht auf ein garantiertes Einkommen, das Recht zu arbeiten sind Bürgerrechte, die Kindern hier zu Lande weitgehend vorenthalten werden. Die Gegenwart der Kinder und ihre jeweils aktuellen Probleme, um die es hier geht, sind in der Vergangenheit vernachlässigt wor­den. Dem tragen auch Äußerungen in der heutigen Kind­heitsforschung Rechnung. In dem so genannten Ent­wicklungsparadigma der bisherigen Kindheitssoziologie erkennen dessen Kritiker eine Verengung der Perspekti­ve auf Kindheit, da Kinder darin nur als etwas Unfertiges betrachtet werden: »Nicht die aktuellen Lebenschancen des Kindes bestimmen die Problemsicht, sondern die Le­benschancen, die es als Erwachsener haben wird. [...] Hierdurch wird Kindheit nur als Übergangsstadium be­trachtet.« Es werde übersehen, dass kindliche Bedürfnis­se bereits aktuell beeinträchtigt seien und auch Probleme des Jetztseins thematisiert werden müssten. Notwendig sei, die Perspektive der Kinder selbst zu stärken bzw. aus­schließlich zu berücksichtigen.21

Für die Zukunft

Das Kinderwahlrecht zielt jedoch nicht nur auf die un­mittelbaren Lebensumstände von Kindern, sondern auch auf das Verhältnis der Generationen ab. Kinder sind un­sere Zukunft, lautet eine Formel; sie haben ein Recht auf Zukunft, so formuliert eine andere. Was kann man von diesen Floskeln halten?

»Unsere Gesellschaft lebt in vielen Bereichen auf Kos­ten ihrer Kinder. Beispiele dafür sind die fortschreitende Umweltzerstörung, die sich durch Probleme zeigt wie Ozonloch, Treibhauseffekt, Atommüll, Artensterben, Verödung der Böden, Überfischung der Meere, Abhol­zung der Urwälder. Aber auch die ausufernde Staatsver­schuldung ist ein Phänomen, das den Lebenshorizont zukünftiger Generationen negativ beeinflusst«, schreibt die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, die in Deutschland 1997 gegründet wurde und sich für Gene­rationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit einsetzt. Ein solches »Leben auf Kosten der Zukunft« findet heute massiv statt, wofür als Beispiele auch die Jugendarbeits­losigkeit und die Benachteiligung der jungen Generation in der Rentenversicherung genannt werden.22

Auch andere Autoren23 beklagen die Externalisierung der Kosten und sonstiger Folgen des gegenwärtigen Han­delns in die Zukunft. Diese »Futurisierung« geschieht so­wohl bei den Staatsfinanzen als auch im Umweltschutz. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass das hohe Niveau heutiger Lebensverhältnisse den nachfolgenden Genera­tionen Aufgaben und Schulden aufbürdet. Ob anthropo­gene Klimaveränderungen, Atommüll, ein nicht mehr funktionierendes Altersversorgungssystem oder die Ver­schuldung des Staates – die Ungeborenen und die Kinder können sich nicht gegen die Verursachung dieser künftig von ihnen zu bewältigenden Probleme wehren. Die Ver­antwortlichen sind durch Tod oder Verjährung später nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Demografische Entwicklungen verschärfen die Lage. Das Verhältnis von Alten (über 65 Jahren) zur Erwerbsbevölkerung (zwi­schen 15 und 65 Jahren) wird sich von heute 1:4 auf 1:2 im Jahr 2040 verdoppeln.24

Diese Situation nimmt die prominente Juristin Lore Maria Peschel-Gutzeit zum Anlass für ihren Vorstoß in Sachen »Wahlrecht von Geburt an«, den sie unter ande­rem folgendermaßen begründet: »Familien werden be­nachteiligt, obwohl es gerade die Familien sind, die unse­re Versorgungssysteme tragen. Wir leben rücksichtslos auf Kosten der nachfolgenden Generationen und provo­zieren damit den Zerfall der Solidargemeinschaft. [...] Ohne familiäre Verpflichtungen erzielen Kinderlose im Laufe ihres Lebens höhere Einkommen und damit höhere Rentenansprüche als Eltern, obwohl sie im Gegensatz zu Eltern nichts in die Zukunft des Systems investiert ha­ben.«25 Mit ähnlichen Überlegungen begründen mehrere Autoren ihre Forderung zur Änderung des Wahlrechts.26

Die neuen Wählerstimmen sollen den Druck auf die Poli­tik verstärken, für Generationengerechtigkeit zu sorgen. Die meisten der hier zitierten Autoren favorisieren in die­sem Zusammenhang das so genannte Stellvertreterwahl­recht, also die treuhänderische Abgabe der Kinderstim­men durch die Eltern.


Sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft gilt, was die Jugendforscher Klaus Hurrelmann und Christian Palentien im Vorwort zu ihrem Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis »Jugend und Politik« schreiben: »Fak­tisch ist die junge Generation von den sie betreffenden politischen Entscheidungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen ausgegrenzt. Erst in Ansätzen zeigen sich Gegen­bewegungen.«27

Zu den angesprochenen Gegenbewegungen zählen die Initiativen für das Kinderwahlrecht, von dem positive Wirkungen in zwei Bereichen erwartet werden. Einerseits sollen die Kinderlosen und Alten in unserer Gesellschaft nicht weiter bevorzugt und die finanziellen und ökologi­schen Belastungen nicht mehr auf die nachkommenden Generationen abgewälzt werden. Andererseits sollen Kinder nicht nur wegen ihrer Zukunft, sondern bereits in ihrer Gegenwart ernst genommen werden. Heute gel­ten Grund- und Menschenrechte für Kinder nur einge­schränkt, in der alltäglichen Erziehung und in der Schule erfahren Kinder Ohnmacht und Abhängigkeit. Die Fol­gen wirken weit in die Zukunft. Das Kinderwahlrecht kann beitragen, den Objektstatus der Kinder zu ändern.


5 Die Tageszeitung, 9.5.2001, S. 24
6 Berliner Zeitung, 30.10.1999
7 Der Tagesspiegel, 13.12.1999, S.2
8 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Materialien zur Familienpolitik 8, 21./22.3.2000
9 Die Zeit, 20.4.2000
10 Information des Christlichen Jugenddorfwerkes CJD, Oktober 1999
11 Bundesverband Alphabetisierung e.V., Goebenstraße 13, 48151 Münster
12 AP-Meldung, 8.9.1999
13 Kramer/Werner 1998, S. 42
14 Spiegel-Online, 13.12.2001
15 Information des Statistischen Landesamtes Berlin; die Werte schwanken zwischen 17,1% und 12,4%.
16 Es sei denn, sie tun es aus Notwehr. Auf das Notwehrprinzip können sich Eltern, die erzieherische Ziele verfolgen, jedoch nicht berufen.
17 Alice Miller im Interview, in: Der Tagesspiegel, 13.12.1999, S. 2
18 Ausführlich dargestellt sind Fragen der radikalen Erziehungskritik, Fragen des beklagenswerten Generationenverhältnisses und entsprechende Alternati­ven in einschlägigen Veröffentlichungen: Deutsche Kinderrechtsbewegung 1984; von Braunmühl 1986, 1990, 1997; Hinte 1990; Heimrath 1991; Weimann 1992; Weingartz 1992; Stern 1995; Böhm/von Braunmühl 1994
19 von Braunmühl 1990, S. 191
20 Fischer-Kowalski/Pelikan/Schandl 1995, Gribble 2000
21 Honig/Leu/Nissen 1996, S. 12f.
22 Information aus dem Internetangebot: www.srzg.de/html/kurzinfos.html
23 Siehe zum Beispiel Merk 1997 mit weiterführender Literatur.
24 Peschel-Gutzeit 1999, S. 558
25 ebd., S. 557
26 Hattenhauer 1997, S.239, Löw 1993
27 Palentien/Hurrelmann 1997, S. 5