4. Steht das Kinderwahlrecht im Einklang mit dem Grundgesetz?
Auch die besten politischen Argumente und humanistischen Ideen nützen wenig, wenn die daraus abgeleiteten Forderungen nicht in Übereinstimmung mit den Gesetzen gebracht werden können. Deshalb muss untersucht werden, welche juristischen Hindernisse dem Wahlrecht ohne Altersgrenze im Weg stehen. Die wichtigste Frage lautet dabei: Ist die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder verfassungskonform?
Die Beantwortung dieser grundsätzlichen Frage macht einen kurzen Exkurs in das Verfassungsrecht notwendig. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist der Charakter unseres Staates geregelt, so enthält beispielsweise der Artikel 20 folgende Bestimmungen:
Artikel 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Der erste Satz von Absatz (2) legt das Prinzip der Volkssouveränität fest, der erste Halbsatz des zweiten Satzes das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Letztendlich übt das Volk die »Gewalt im Staate« aus. Hierzu bedient sich das Volk der Wahlen. Daraus folgt, wie der Wahlrechtsexperte Wolfgang Schreiber betont, dass »jedes Organ staatlicher Gewalt und jede Ausübung der Staatsgewalt [...] danach ihre Grundlage in einer Entscheidung des Volkes finden [muss], das heißt in Wahlen, die damit der für die Willensbildung im demokratischen Staat und für das Funktionieren des demokratischen Systems schlechthin zentrale und entscheidende Vorgang sind. Als wichtigste Form der aktiven Teilnahme des Volkes am politischen Leben sind Wahlen der Grundvorgang jedes demokratischen Verfassungslebens und Fundamentalausdruck der Volkssouveränität im Sinne des Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 GG.«28
Das Volk setzt sich dabei aus niemand anderem als den lebenden Staatsangehörigen zusammen. Die Staatsangehörigkeit erwirbt man in der Regel29 mit der Geburt, das ist juristisch unumstritten. Folglich gehören Kinder ebenfalls zum Volk. Aus diesem Grund müsste Kindern das Wahlrecht zustehen.
Das ist aber nicht der Fall, denn durch Artikel 38 des Grundgesetzes, der das hier interessierende aktive und ebenso das passive Wahlalter regelt, werden Menschen unter 18 Jahren ausgeschlossen:
Artikel 38
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
Die Staatsfundamentalnorm in Artikel 20 des Grundgesetzes
Man hat es offensichtlich mit einem Widerspruch innerhalb des Grundgesetzes, nämlich zwischen Artikel 20 (2) und Artikel 38 (2), 1. Halbsatz, zu tun. Er ist jedoch nicht unlösbar. Einerseits sind alle Artikel im Grundgesetz formal von gleicher Wertigkeit, gleichem Rang. Andererseits sind bestimmte Unterschiede zwischen den Artikeln zu erkennen. Im Artikel 20 des Grundgesetzes ist das demokratische Wesen unseres Staates festgeschrieben, das für immer unantastbar bleibt. Keine Mehrheit von Bundestag und Bundesrat kann, solange das Grundgesetz gilt, an diesem demokratischen Prinzip etwas ändern. Dies ist im Artikel 79 (3) des Grundgesetzes geregelt.
Artikel 79
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Aus diesem Grund werden die Artikel 1 (Würde des Menschen) und 20 auch Staatsfundamentalnormen genannt.30 Artikel 38, insbesondere Absatz (2), 1.Halbsatz, kann hingegen vom Bundestag geändert werden. Er konkretisiert lediglich die in Artikel 20 festgeschriebenen Grundsätze. Im Einzelnen zählen hierzu neben der oben zitierten Altersgrenze auch die in Artikel 38 (1) geregelten und nicht zu beanstandenden Bestimmungen des Charakters der Wahlen:
Artikel 38
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verpflichtet.
Der Allgemeinheitsgrundsatz in Artikel 38 des Grundgesetzes
Der in Artikel 38 formulierte Allgemeinheitsgrundsatz nimmt in der Diskussion um das Kinderwahlrecht eine zentrale Position ein. Er besagt, dass das Stimmrecht grundsätzlich allen Bürgern zustehen muss. Dieser Grundsatz untersagt, wie es im Kommentar zum Grundgesetz heißt, »den unberechtigten Ausschluss von Staatsbürgern von der Wahl. Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen und fordert, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können«.31
Verschiedene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich, dass dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum bleibt. »Differenzierungen in diesem Bereich bedürfen stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes.« Das bedeutet: »Das Wahlrecht darf auch nicht von besonderen, nicht von jedermann erfüllbaren Voraussetzungen (des Vermögens, des Einkommens, der Steuerentrichtung, der Bildung, der Lebensstellung) abhängig gemacht werden. [...] Das allgemeine Wahlrecht kann nur aus zwingenden Gründen eingeschränkt werden.«32
Folgt man diesen Grundsätzen, stellt sich die Frage, welche Gründe ausreichend zwingend sein können, um alle Unter-18-jährigen vom Wahlrecht auszuschließen.
Die Einzelheiten des im Grundgesetz nur grob umrissenen Wahlrechts regelt das Bundeswahlgesetz. Dem wichtigsten Kommentar zu diesem Gesetz entnimmt man zum Thema Mindestalter: »Für die Festsetzung des Wahlalters ist die allgemeine politische Urteilsfähigkeit ausschlaggebend.«33 Und an anderer Stelle heißt es: »Aus dem Wesen des aktiven Wahlrechts als einem höchstpersönlichen Recht folgt, dass gewisse persönliche Mindesterfordernisse für eine vernunft- und gemeinschaftsgemäße Entscheidung gegeben sein müssen. Dazu gehört ein bestimmtes Lebensalter.«34 Es werden also zwei unabhängige Aspekte des Problems deutlich:
a) Wie ist die allgemeine politische Urteilsfähigkeit des Wählers definiert, die für »vernunfts- und gemeinschaftsgemäße Entscheidungen« mindestens erforderlich ist?
b) Ist »ein bestimmtes Lebensalter« ein »zwingender Grund« zum Ausschluss vom Wahlrecht?
Das schwierige Problem der Urteilsfähigkeit soll zunächst einmal nicht interessieren, ich werde später in einem eigenen Kapitel darauf zurückkommen. Es entzieht sich der juristischen Handhabung, die sich deshalb des praktikableren Kriteriums, nämlich des Lebensalters, bedient. Die zweite Frage dagegen formuliert das eigentliche juristische Problem, das jetzt erörtert werden soll.
Die Frage ist von mehreren Autoren behandelt worden. So kommt der Münchner Rechtsanwalt und Politologe Peter Merk zu dem Schluss, »dass alle gegen das Wahlrecht ohne Altersgrenzen vorgebrachten juristischen Gründe nicht tragfähig sind. Auch die juristische Literatur ist nicht im Stande, entsprechende Argumente vorzubringen. Nur Theodor Maunz35 nennt (wohl unfreiwillig) das einzige ›Argument‹, wenn er schreibt, dass sich diese Einschränkung ›aus dem Wesen des aktiven Wahlrechts‹ ergebe und ›historisch erhärtet‹ sei. Faktisch wird somit dieser Ausschluss vom Wahlrecht mit dem unsäglichen Argument des ›es war schon immer so‹ begründet. Dieses ›historisch erhärtet‹ bedeutet in der Substanz nichts anderes als ein versteinertes Vorurteil. Es dürfte evident sein, dass eine ›historische Erhärtung‹ nicht geeignet ist, als ›zwingender Grund‹ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Allgemeinheit der Wahl zu dienen.«36 Wenn »historische Erhärtung« ein ernsthaftes Argument wäre, dürften ja auch Frauen bis heute kein Wahlrecht haben.
Auch der Kieler Rechtsprofessor Hans Hattenhauer37 und die ehemalige Justizsenatorin Lore Maria PeschelGutzeit38 kommen in ihren Überlegungen zum gleichen Ergebnis. Bereits 1974 war der Jurist Konrad Löw mit derselben Ansicht als einer der Ersten an die Öffentlichkeit getreten: »Gerade die Geschichte des (...) Wahlrechtskampfes erscheint denkbar ungeeignet zum Nachweis, dass es ein Wahlrecht für Kinder nicht geben dürfe, weil es ein solches bisher nicht gegeben hat.«39
Wenn sich auf diese Weise die Auffassung durchsetzt, dass das Alter kein »zwingender Grund« dafür ist, das Grundrecht der Wahl pauschal und legal einzuschränken, bleibt nur die Möglichkeit, den widersprüchlichen Artikel 38 (2) zu ändern. Welche Konsequenzen damit verbunden sein werden, werden die Erörterungen im Kapitel »Wie soll das Kinderwahlrecht praktisch funktionieren?« ergeben. Damit ist das Wahlrecht ohne Altersgrenze zunächst einmal mit Hilfe formal juristischer Konstruktionen begründet und durchsetzbar.
Doch wird den Kindern damit auch wirklich der Zugang zu den Wahlurnen gewährt? Die zitierten Autoren sind Juristen. Sie favorisieren überwiegend das Stellvertreterwahlrecht. In diesem Modell unterscheiden sie zwischen den Inhabern des Wahlrechts (zu denen die Kinder zählen sollen) und den Stellvertretern, die dann tatsächlich wählen gehen (den Eltern). Das heißt, die genannten Autoren brauchen bei ihrer Argumentation für ein Kinderwahlrecht lediglich den oben angeführten Nachweis anzutreten, dass der Allgemeinheitsgrundsatz im Wahlrecht Kinder einschließt. Mit der Urteilsfähigkeit als angeblicher Zugangsvoraussetzung zur Wahl müssen sie sich nicht auseinander setzen, da die Wähler dieselben sind wie bisher.
Eine Konsequenz ergibt sich aus der Kommentierung der Staatsfundamentalnorm in Artikel 20 des Grundgesetzes. »Wenn es auch nicht im Grundrechtskatalog der Artikel 1 bis 17 GG steht, so ist das Wahlrecht doch verfassungsrechtlich ein–traditionell und historisch aus der Staatsbürgerschaft resultierendes – ›politisches‹ Grundrecht, nach anderen Angaben ein grundrechtsgleiches Recht.«40 In der Praxis wird das Wahlrecht aber nicht als Grundrecht behandelt. Mit der Feststellung des Grundrechtscharakters wird »verfassungsrechtlich wohl ein ›Prinzip Hoffnung‹, schwerlich jedoch ein empirischer Tatbestand formuliert. [...] Das Wahlrecht des Bürgers der Bundesrepublik Deutschland stellt folglich entsprechend den bisher immer noch verbindlichen Bestimmungen des Artikel 38 Absatz 2 GG kein Grundrecht des Bürgers, sondern ein ihm seitens des Verfassungsgebers eingeräumtes (beziehungsweise vorenthaltenes) politisches Privileg dar.«41 Das Wahlrecht darf jedoch kein Privileg bleiben.