5. Das Kinderwahlrecht – ein Schritt zur echten Demokratie?
Selbst wenn das uneingeschränkte Wahlrecht für alle nicht durch Artikel 20 (2) des Grundgesetzes geschützt wäre, müsste man fragen, warum Kinder bei Wahlen nicht mitbestimmen dürfen.
Die so genannten Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sicherlich nicht daran gedacht, dass auch Kinder das Wahlrecht erhalten sollen. Dafür war 1949, gerade 30 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland, die Zeit noch nicht reif. Jedoch haben sie die Prinzipien einer modernen Demokratie sehr ernst genommen, so dass aus den allgemeinen Formulierungen des Grundgesetzes das Kinderwahlrecht abgeleitet werden kann. Damit haben die Befürworter des Kinderwahlrechts in gewisser Weise Glück. Die Bundestagsabgeordneten können die Altersgrenze aus dem Artikel 38 (2) des Grundgesetzes entfernen. Mit etwas Pech für die nur juristisch argumentierenden Kinderwahlrechtsbefürworter hätte es auch anders kommen können, beispielsweise wenn die Altersgrenze in Artikel 20 festgeschrieben worden wäre. Denkbar wäre auch, dass das Wahlrecht nicht durch die Unantastbarkeitsklausel des Artikels 79 (3) geschützt wäre. In diesem Fall stünden sich Artikel 20 und Artikel 38 als gleichrangige Normen gegenüber und die formal-juristische Argumentation ohne die Möglichkeit des Bezugs auf die Staatsfundamentalnorm des Artikels 20 würde nichts ergeben. Jenseits aller juristischen Eventualitäten ergibt sich die Notwendigkeit des Kinderwahlrechts aber vor allem, wenn höhere, vorstaatliche, nicht gesetzlich normierte Prinzipien, im Besonderen das Demokratieprinzip, in Anwendung gebracht werden.
Was heißt Demokratie?
Der Begriff Demokratie ist unscharf. Im alten Athen beschrieb er ein Verfahren der staatlichen Lenkung, in dem alle42 Bürger die anstehenden Entscheidungen gemeinsam und direkt trafen. Das erstreckte sich sowohl auf den Erlass von Gesetzen als auch auf die Kontrolle ihrer Einhaltung und die Verurteilung von Gesetzesbrechern. Dies wird auch »direkte Demokratie« genannt, da zwischen dem Souverän (dem Volk) und der Macht, Entscheidungen zu fällen, keine Zwischeninstanz existierte. Das Volk herrschte unmittelbar. Die verfeinerten heutigen Varianten der Volksherrschaft haben daher ihren Namen: Demokratie (von griechisch demos – Volk und kratos – Stärke, Herrschaft).
Nicht nur aus praktischen Gründen kam die direkte Demokratie für größere gesellschaftliche Zusammenhänge auf die Dauer nicht in Frage. So entwickelte sich eine Variante der Volksherrschaft: die »repräsentative Demokratie«. Auch bei dieser Regierungsform lag die Entscheidungsbefugnis im Grunde beim Volk, es wählte jedoch Vertreter, die Gesetze erließen und die Regierungsarbeit kontrollierten. Die Vertreter waren dem Volk zur Rechenschaft verpflichtet.
Nach der Französischen Revolution begann die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte in der Erklärung der Menschenrechte43 und in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 177644 ihren Siegeszug um die Welt. Jeder Einzelne sollte vor Entscheidungen und Handlungen der Mehrheit, die für ihn nachteilig waren, und vor Stärkeren geschützt werden. Letztlich kann diese gesellschaftspolitische Innovation als Bollwerk gegen das Faustrecht verstanden werden. Die Menschenrechte fanden Eingang in die Verfassungen vieler Staaten. Als Bürger- bzw. Grundrechte, als Freiheits- und Gleichheitsrechte standen sie nicht zur Disposition der Regierung. Die Regierungsform blieb zwar eine repräsentative Demokratie, jedoch mit der Bedingung, die Grundrechte zu respektieren. Bis dahin galten die Regeln der Demokratie immer nur für einen privilegierten Teil der Bevölkerung. Nun konnten sich bisher benachteiligte Gruppen, zum Beispiel Sklaven und Frauen, auf ihre Rechte berufen, darunter auf das Wahlrecht. Gegenwärtig gilt die 30 Artikel umfassende »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen von 1948 als anerkannte Basis für die Grundrechte des Menschen. Die Mitgliedsstaaten der UNO haben sich verpflichtet, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verwirklichen. In der Präambel heißt es zur Begründung u.a.: »Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (bildet) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt.« In diesem Sinn sind die Menschenrechte auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert. Dort heißt es: »Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. [...] (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« Diese weiterentwickelte Form der repräsentativen Demokratie heißt, weil es eine Verfassung gibt, auch »konstitutionelle Demokratie«.
Aus der menschenrechtlichen Idee, dass jeder Mensch sich auf die gleichen Grundrechte berufen darf, ergibt sich der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz oder – mit anderen Worten – das Prinzip der Gleichberechtigung. Artikel 2 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« bestimmt: »Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.« Gleichberechtigung im Sinne der Menschenrechte wurde im Laufe der historischen Entwicklung gesellschaftlicher Regeln eingeführt, weil die Menschen verschieden sind. Alle Menschen haben die gleiche Menschenwürde. »Eine Unterschiedlichkeit ihrer Menschenwürde wäre schlicht unbegründbar. Sonst müssten wahrscheinlich auch Frauen und Männer eine unterschiedliche Menschenwürde haben, kluge und weniger kluge, behinderte und nicht behinderte, arme und reiche, und überhaupt alle Menschen müssten unterschiedliche Menschenwürden haben. Das wäre natürlich Unsinn.«45
Altersgrenzen bei Menschenrechten
Da Kinder unbezweifelbar Menschen sind, müssen sie die gleiche unantastbare Menschenwürde wie Erwachsene haben. Deshalb müssen sie auch die aus der Menschenwürde abgeleiteten gleichen Menschenrechte haben wie die Erwachsenen. Da Kinder unbestritten zu den Schwachen in der Gesellschaft zählen, müssen ihre Rechte ganz besonders geschützt werden. Der friedenstiftende Sinn der Menschenrechte ergibt sich gerade aus dem Schutz der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft vor der Macht der Stärkeren. Jeder noch so Schwache soll ohne Angst, bedroht zu werden, leben können. Die Starken dürfen sich nicht rücksichtslos, womöglich mit Gewalt, gegen Schwächere durchsetzen. Sie müssen in einer Gesellschaft, in der die Menschenrechte geachtet und geschützt werden, mit Bestrafung rechnen, wenn sie die Menschenrechte Anderer missachten. Da die Menschenrechte allen in gleicher Weise zustehen, braucht der »Starke« seinerseits keine Angst zu haben, dass ihm seine Freiheit und sein Recht beschränkt werden. Da alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind,46 besteht keine Gefahr, dass sich die Gesellschaft in beliebiger, grenzenloser Freiheit, in einem ungebändigten Chaos verliert. Vielmehr geht es darum, ständig das Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit auszubalancieren.
Dieses Konzept der Gleichberechtigung unter Beachtung der Grundrechte sollte endlich auch zwischen Kindern und Erwachsenen verwirklicht werden. Hierzu zählt auch das im Artikel 21 (1) und (3) der Menschenrechtserklärung bestimmte Wahlrecht: »Artikel 21 (1) Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen. [...] (3) Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch periodische und unverfälschte Wahlen mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht bei geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.« Diese Formulierung enthält keinen Interpretationsspielraum, um Kinder vom Wahlrecht auszuschließen.
Die Rechte und die Pflichten
Nicht nur, wenn es um die Rechte von Kindern geht, wird häufig eingewendet, wer Rechte habe, müsse auch Pflichten erfüllen. Und da Kinder bestimmte Pflichten nicht erfüllen könnten, stünden ihnen bestimmte Rechte auch nicht zu. Wenn man von den Grundrechten spricht, gilt es hier, eine Denkgewohnheit zu durchbrechen: Grundrechte stehen jedem ohne Gegenleistungen und unabhängig von seinen Fähigkeiten zu.
Bei der Frage, wer über welche Rechte verfügen darf, ist darüber hinaus eine weit verbreitete und irreführende Formulierung von zentraler Bedeutung.47
Es wird immer wieder behauptet, dass Rechte »ausgeübt« werden. Diese Vorstellung hat sogar in das Bundeswahlgesetz Eingang gefunden: Paragraf 14 heißt »Ausübung des Wahlrechts«. Man spricht auch davon, dass man von seinen Grundrechten »Gebrauch mache«. Dieser Sprachgebrauch erzeugt den Eindruck, dass der Inhaber des Rechts eine Handlung vollbringen muss, bei ihm also die dazu notwendigen Fähigkeiten vorausgesetzt werden müssen. Ausgedrückt wird dieser Gedanke durch den verbreiteten Begriff »Grundrechtsfähigkeit«. Wendet man vor diesem Hintergrund die Idee der Grundrechte auf Kinder an, gerät man in Argumentationsschwierigkeiten. Wenn Rechte »ausgeübt« werden müssen, bedarf es – so wird geschlussfolgert – eines Stellvertreters, da Kinder zum »Ausüben« ihrer Rechte (noch) nicht fähig sind. Bei diesem Schluss handelt es sich jedoch um eine gedankliche Täuschung. Um sie zu erläutern, ziehe ich eine Definition Ekkehard von Braunmühls zu Rechten und Pflichten heran, die vor allem die traditionelle Denkgewohnheit von den »auszuübenden«, also von Fähigkeiten (genau genommen von Macht) abhängigen Rechten angreift. Sie macht aber auch die übliche Vermischung von Grundrechten und Pflichten durchschaubar. »Zur Begründung dieser Definition sind drei Unterscheidungen bedeutsam: zum Ersten die Unterscheidung zwischen dem Ich und allen anderen Menschen, zum Zweiten die Unterscheidung zwischen Tun und Nicht-Tun, also zwischen Handlungen und Unterlassungen, zum Dritten die Unterscheidung zwischen Gebot und Verbot.«
In einer Tabelle lassen sich die Kategorien der Rechte und Pflichten nach Ekkehard von Braunmühl gegenüberstellen:
Rechte | Pflichten |
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Bezogen auf den Begriff der Menschenwürde führt Ekkehard von Braunmühl weiter aus: »Dieses Recht aller Menschen verpflichtet mich bzw. staatliche Organe keineswegs, alle Menschen dauernd zu würdigen, es verbietet mir bzw. dem Staat aber, sie jemals zu entwürdigen, also ihre Menschenwürde anzutasten.«48
Für das Wahlrecht folgt daraus, dass kein Mensch, also auch kein Kind, als Voraussetzung dafür irgendwelche Pflichten erfüllen oder über irgendwelche Fähigkeiten verfügen muss, denn das Wahlrecht gilt sowohl im Rahmen des Grundgesetzes als auch im Rahmen der Menschenrechtserklärung als Grundrecht. Aus der Definition folgt, dass »alle anderen« sogar die Pflicht haben, kein Kind an der Handlung zu hindern, die durch das Wahlrecht gedeckt ist: am Wählen. Auf diese Weise dürfte die Unterscheidung zwischen dem Recht einerseits und der vom Recht gedeckten Handlung bzw. Unterlassung andererseits die Debatte um das Kinderwahlrecht revolutionieren. »Wählen ist eine Tätigkeit, das Wahlrecht nicht«, heißt es bei Ekkehard von Braunmühl lapidar.
Beispiel: Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention
Besonders deutlich zeigen sich die Auswirkungen des Denkfehlers, der in dem Begriff »Grundrechtsfähigkeit« steckt, in der UN-Kinderrechtskonvention. Der Artikel 12 (Berücksichtigung des Kindeswillens) lautet: »Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.«
Kinder, die unfähig sind, sich eine Meinung zu bilden, können diese auch nicht äußern. Weshalb muss ihnen dann das Recht, eine Meinung zu äußern, noch extra abgesprochen werden? Wollten die Väter und Mütter der Kinderrechtskonvention mit dieser Formulierung ausdrücken, dass Kinder keine eigene, sondern eine fremde Meinung haben? Warum dürfen sich Kinder nur in »allen das Kind berührenden Angelegenheiten« frei äußern? Wer sich in einer Sache äußern will, hat offensichtlich allein dadurch etwas mit dieser Angelegenheit zu tun. Wie soll eine mich nicht berührende Angelegenheit aussehen, zu der ich etwas sage? Niemand kommt auf die Idee, dergleichen bei einem Erwachsenen in Artikeln und Paragrafen regeln zu wollen.
Dieser Artikel hat es wirklich in sich: Was ist der Unterschied zwischen »berücksichtigen« und »angemessen berücksichtigen«? In der Erwachsenenwelt geht keiner davon aus, dass das Berücksichtigen einer Meinung automatisch dazu führt, dass die darin enthaltene Forderung erfüllt wird. Eine Meinung zu berücksichtigen heißt aber nicht, auch zusichern, dass sie sich erfüllt. Es heißt, auf sie Rücksicht zu nehmen, sofern das im Spannungsverhältnis mit anderen Rücksichtnahmen möglich ist. Die Angemessenheit, die das Berücksichtigen der kindlichen Meinung um eine gegebenenfalls erhebliche Größe verkleinert, ist eine Anmaßung, vielleicht sollte es besser »anmaßende Berücksichtigung« heißen. Wem das vermessen erscheint, der stelle sich den Artikel auf Erwachsene angewendet vor: »Die Vertragsstaaten sichern dem Rentner, der fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen den Rentner berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Rentners angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Gebrechlichkeit.«
Was aus dem Glauben folgt, dass ein Recht nur ausgeübt werden kann, wenn entsprechende Fähigkeiten vorhanden sind, lässt sich nicht nur im Artikel 12 der Kinderrechtskonvention nachweisen. Aber gerade hier wird der Bezug zum Wahlrecht deutlich, denn auch das Wählen ist eine Meinungsäußerung. Hierzu passend kommt ein Gutachten des Bundesjugendministeriums zu dem Ergebnis, »dass Rechte für die Kinder in den Mitgliedsstaaten der UNO unmittelbar durch die Konvention gar nicht begründet werden«. Sie »gewährleistet Schutz und Fürsorge der Kinder durch die Erwachsenen (Art. 2 und 5), so dass die Konvention systematisch eher eine Ausprägung des Kindeswohlgrundsatzes ist«.49
Fassen wir nach diesem Exkurs das Kapitel zusammen: Zu den Prinzipien einer modernen Demokratie gehört, dass Grund- und Menschenrechte allen Menschen zustehen, auch Kindern. Das Wahlrecht macht da keine Ausnahme. Eine Gesellschaft wie die unsere, in der es noch kein Kinderwahlrecht gibt, ist folglich undemokratisch – so hart das auch klingt.