6. Ist fehlende Urteilsfähigkeit ein Gegenargument?
Nun könnte man einwenden, die konstitutionelle Demokratie mit ihrem Grundrechtekatalog habe zwar die formale Konsequenz, Kinder wie ganze Menschen zu behandeln, so sei das aber nie beabsichtigt gewesen. Ursprünglich sollten nur Menschen über die Geschicke des Staates bestimmen, die politische Reife und Urteilsfähigkeit besitzen. Und die so genannte Entwicklungstatsache – der Umstand, dass Kinder über viele Dinge keinen Überblick haben – könne nicht geleugnet werden. Wer möchte schon von Kindern regiert werden?
Historische Betrachtung
In der Tat ergibt ein Blick in die Geschichte des Wahlrechts, dass der Verstand des Wählers darin eine Rolle gespielt hat. Schon 1687 hieß es in einem Aufsatz: »Es gelte die Regel, dass alles, was kraft Entscheidung geschehe, nur bei vollkommener und bewusster Kenntnis der Sache verrichtet werden könne.«50 Bis vor 150 Jahren war außerdem die Bindung des Wahlrechts an Vermögen und wirtschaftliche Freiheit unbestritten. »Man kann diesem Grundsatz nicht jegliche Berechtigung absprechen und [...] die Frage hinzufügen, ob nicht in der Tat derjenige in politischen Entscheidungen verantwortlicher und vorsichtiger vorgeht, der die Kosten der Politik zu tragen hat. Schließlich war es auch mehr als eine Gedankenspielerei, zu behaupten, dass der Grundbesitzer sich in der Not nicht leicht von seinem Haus verabschieden und es nach Kräften verteidigen werde, während der Habenichts sich mangels Risikos aus dem Staube mache, um sein Leben zu retten, wenn der Feind naht. Es galt der Grundsatz: Wer die Musik bestellt, muss sie bezahlen, wer sie aber bezahlt, darf auch allein bestimmen, was gespielt werden soll«,51 schreibt der Jurist und Wahlalter-Experte Hans Hattenhauer in einer Abhandlung zum Kinderwahlrecht und zitiert einen Abgeordneten aus der Verfassungsdiskussion von 1848/49: »Die Launen der Unterschichten habe den Staaten der Antike den Untergang eingetragen.« Dieser Abgeordnete wollte darauf hinwirken, dass nur »selbstständige, unbescholtene Deutsche« das Wahlrecht erhalten dürfen. Das Wahlrecht hätte so die Machtverteilung festgelegt, denn die »Unselbstständigen« ohne Wahlrecht würden mehr oder weniger der Willkür der »Selbstständigen« ausgeliefert bleiben. Diese regieren wohl selten im Interesse des ganzen Volkes, im Zweifelsfall werden sie ihre eigenen Interessen voranstellen. Am Ende der langwierigen Debatten um die Bedingungen, die an das Wahlrecht geknüpft werden sollen, stand 1849 schließlich, dass »Wähler jeder unbescholtene Deutsche [ist], welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat«.52
Offensichtlich ist dieses Ergebnis der Revolution von 1848, die Einbeziehung aller – vorerst aller männlichen – Bürger in das Wahlrecht, nicht nach Prüfung der Urteilsfähigkeit der zusätzlichen Wähler zu Stande gekommen. Es ist vielmehr Ausdruck der politischen Machtverhältnisse der damaligen Zeit. Strategische Überlegungen gaben den Ausschlag für die Änderung des Wahlrechts.53
Diese Erkenntnis fasst Hans Hattenhauer so zusammen: »Neben dem Zweck der Berufung von Volksvertretern kam den Wahlen zunehmend eine die politische Ordnung stabilisierende Aufgabe zu. Dieser Integrationscharakter des Wahlrechts ließ auch die zwei Fiktionen erträglich erscheinen, mit denen das demokratische Wahlrecht belastet ist. Fiktionen sind juristische Notlügen, auf die keine Rechtsordnung verzichten kann, die aber sparsam gebraucht werden müssen. Deren eine besteht in der Unterstellung, dass alle Wähler politisch gleich erfahren sind und gleich besonnen und überlegt handeln; die andere gibt vor, dass die Mehrheit klüger ist als die Minderheit.«54
Mit dem Hinweis auf die erste Fiktion könnte die Frage nach der Qualität, die sich hinter der einzelnen Wahlstimme verbirgt oder verbergen sollte, als beantwortet gelten. Die Urteilsfähigkeit spielt aber dennoch und anhaltend in der Wahlrechtsdiskussion eine Rolle.
Der »blinde Fleck« der Demokratietheorie
Auch in der Demokratietheorie wird bis heute um die Anforderungen an den Wähler gestritten. Zu den Grundprinzipien der modernen Demokratien gehört, dass alle Menschen als gleich und frei gelten. Mit der Anerkennung als Freie und Gleiche ist der Begriff der privaten und öffentlichen Autonomie verbunden.55 Die private Autonomie bezieht sich vor allem auf die Freiheitsrechte, die dem Bürger erlauben, sich so unbehelligt – vom Staat wie von Mitbürgern – wie möglich zu entfalten. In diesem Bereich gilt das Prinzip, dass individuelles Handeln nicht begründet zu werden braucht. Die öffentliche Autonomie hingegen bezieht sich auf die Möglichkeit der Bürger, sich über Wahlen an den kollektiv bindenden Entscheidungen des politischen Systems zu beteiligen und so die eigene Konzeption vom »guten Leben« einzubringen. »Daher ist innerhalb der liberalen Tradition von Demokratietheorie das Wahlrecht das Paradigma von Rechten überhaupt, [...] weil es für die politische Selbstbestimmung konstitutiv ist.« (Habermas)56
Die bisherige Demokratietheorie setzt allerdings bei der Zuschreibung von öffentlicher Autonomie (konkret: das Wahlrecht) »unausgesprochen die Fähigkeit voraus«57, bestimmte Zusammenhänge zu überblicken.
In ihrer Arbeit »One child, one vote?« untersucht die Politologin Franziska Törring folglich, welche Anforderungen ein Bürger erfüllen muss, um wählen zu dürfen. Das Wahlrecht ist hochgradig formalisiert, abstrakte Theorie reicht für eine funktionierende Praxis eben nicht aus. So müssten auch die Bedingungen genau angegeben werden können, die zur Zuerkennung des Wahlrechts erfüllt sein müssen. Dies ist aber, abgesehen von der hier zur Debatte stehenden pauschalen Altersgrenze,58 offenbar nicht der Fall. Die aktuelle Demokratietheorie kann keine expliziten Anforderungen an die Urteilsfähigkeit des Wahlbürgers benennen, dies nennt Franziska Törring den »blinden Fleck«.
Auch ein wissenschaftliches Gutachten, das zur Frage der Urteilsfähigkeit für den Bundestag angefertigt wurde, bestätigt den »blinden Fleck«: »Damit fehlt es bis heute an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, um den Begriff der politischen Urteilsfähigkeit [...] zu definieren.« Dieser Befund führt die Gutachter zu ihrer Forderung, vor einer Senkung des Wahlalters zu klären, »welche Kriterien erfüllt sein müssen (d.h. welcher Reifegrad erlangt sein muss), um Jugendlichen die Fähigkeit zur Teilnahme an der Wahl zu attestieren«.59
Die gegenwärtige Praxis unseres Wahlrechts bestätigt den »blinden Fleck« ebenfalls. Wenn die stillschweigende Annahme lautet, Erwachsene seien reif und urteilsfähig, so wird dies durch nichts bestätigt. Es findet keine Kontrolle der Erwachsenenreife statt. Diese Kontrolle findet nicht nur nicht statt, sie ist gar nicht vorgesehen.
Als Ergebnis dieses Abschnitts lässt sich festhalten, dass sowohl in der Demokratietheorie als auch in der Praxis die Altersgrenze nicht anders gerechtfertigt wird als mit »intuitivem Vorverständnis«, demnach Kindern die politische Reife fehlt. Diese Begründung deckt sich mit der in Kapitel 3 beschriebenen Rechtsauffassung, dass der Ausschluss der Kinder »historisch erhärtet« sei.
Die Wahlfähigkeitsprüfung
Die Prüfung der Urteilsfähigkeit mag zwar gegenwärtig kein Thema sein, aber – so wird immer wieder eingewendet – wenn Kinder wählen dürften, müssten sie zuvor einen Test ihrer Wahlfähigkeit bestehen. Welche Fähigkeiten in so einem Test überhaupt gefordert werden müssten, ist aber völlig unklar.60 Das einzige, was in der Fachdiskussion wie im Volksmund gleichermaßen unterstellt wird, ist der oben erwähnte Glaube, dass Erwachsene über diese nicht näher ausgeführten, speziellen Fähigkeiten verfügen. Das ist die erste Fiktion, mit der Hans Hattenhauer das Wahlrecht belastet sieht. Sie offenbart sich nicht nur darin, dass sich einige Erwachsene weniger gut und andere besser in politischen Dingen auskennen. Eine Fiktion oder Notlüge ist es auch deshalb, weil die Urteilsfähigkeit nicht pünktlich – und schon gar nicht bei allen Menschen gleich – zum 18. Geburtstag einsetzt.
Das schon erwähnte Gutachten für den Bundestag bestätigt am Beispiel der »reifen« Jahrgänge, dass Testkriterien fehlen: »Die möglicherweise abnehmenden Fähigkeiten älterer Menschen, aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme gestalterisch teilnehmen zu können, kann kein Kriterium für den generellen Entzug des Wahlrechts ab einer bestimmten Altersgrenze darstellen, da das Vorhandensein dieser Möglichkeiten umgekehrt auch kein Kriterium für die Gewährung des Wahlrechts ist.«61
Die Forderung nach einem (noch näher zu bestimmenden) Test für Kinder lässt sich aber mit der Annahme begründen, so ein anderer Einwand, dass Erwachsene über mehr Lebenserfahrung verfügen. Diese Erfahrung ließe sich als Nachweis der erforderlichen Reife akzeptieren. Aber auch dieses Kriterium eignet sich wegen seiner Unschärfe nicht. So gibt das oben genannte Gutachten für den Bundestag zu bedenken, Lebenserfahrung »könnte sich in zwei Richtungen auswirken: In klärenden Reflexionen über solche Erfahrungen und Erprobung einerseits, wie aber auch in Verhärtung von Vorurteilen, in Hörigkeit gegenüber Gruppenmeinungen und Gruppeninteressen, in einem Weiterschleppen veralteter, vereinfachter Vorstellungen von Geschichte und Politik andererseits«.62 Dass die Lebenserfahrung ein schwieriges Kriterium ist, fällt auch im Wahlkampf auf, wenn sich die höchsten und intelligentesten Repräsentanten der Parteien gegenseitig und öffentlich mit großer Selbstverständlichkeit ihr politisches Urteilsvermögen absprechen.
Da die Suche nach einem Reifekriterium ergebnislos bleibt, ist ein Test der Wahlfähigkeit, der politischen Kompetenz, der Reife oder der Urteilsfähigkeit nicht durchführbar. Er ist auch deshalb nicht denkbar, weil er – so steht zu vermuten – zum Entzug des Wahlrechts bei zahlreichen erwachsenen Wählern führen müsste. Das käme einem historischen Rückschritt gleich und wäre politisch nicht durchsetzbar.
Die gegenwärtige Praxis
Man kann die bisherigen Ergebnisse zur Urteilsfähigkeit des Wählers um einige Beobachtungen aus der Praxis ergänzen. Die Wahlbefähigung der Wahlbürger wird gemeinhin an ihrem Wissen und ihrer Fähigkeit zum verstandesmäßigen Handeln festgemacht. Ihr Wissen aber scheint bei weitem nicht so groß wie allgemein angenommen, oder es kommt nur eingeschränkt zum Tragen. Viele erwachsene Wähler machen sich nur wenige Gedanken, ihnen fehlt der politische Überblick und sie haben weder von ihrer eigenen Zukunft noch von Anforderungen an die zu wählende Partei klare Vorstellungen. Die Strenge, mit der von jungen Menschen Sachverstand verlangt wird, erscheint unangemessen, wenn man sich ansieht, auf welche Weise viele Erwachsene ihre Wahlentscheidung treffen.
Es gibt zahlreiche so genannte Stammwähler. Sie wählen immer dieselbe Partei. Die konkreten Erfolge oder Ziele, mit denen ihre Partei zur Wahl antritt, sind ihnen nicht so wichtig. Sie entscheiden offenbar nicht auf der Grundlage einer verstandesmäßigen Prüfung der Wahlalternativen, sondern haben schlicht Vertrauen oder folgen einer Gewohnheit.
Umfragen bestätigen immer wieder, dass umgekehrt bei manchen Wahlen beträchtliche Teile des Wahlvolkes selbst unmittelbar vor dem Wahltag noch nicht wissen, was sie wählen sollen. Diese unentschlossenen Wähler entscheiden sich dann in den wenigen verbleibenden Stunden. Auch hier fragt man sich, nach welchen Kriterien diese Entscheidung gefällt wird. Die praktische Erfahrung lehrt, dass diese Menschen – teilweise bis zu 30 Prozent der Wähler – kaum Fakten und Sachinformationen auswerten. Das heißt, auch sie entscheiden vorwiegend aus einem Gefühl heraus, da sie keine klaren Kriterien haben.
Nicht zuletzt machen die Wahlkämpfe deutlich, dass es um Stimmungen geht – und weniger um Klugheit, Klarheit und nachprüfbare Entscheidungen. Die Parteien umwerben die Wähler mit emotional wirkenden Sprüchen und Bildern. Sie verlangen »Treue« und preisen ihre »Glaubwürdigkeit« an. Um nicht die Frage zu vergessen, wieso manche Politiker – selbst bei fast völlig identischen politischen Zielen – bei den Wählern besser ankommen als andere: Es liegt an ihrer persönlichen Ausstrahlung.
Wie man sieht, spielen Vertrauen, Glaube, Hoffnungen, Vermutungen, Gefühle, Stimmungen, Treue, Glaubwürdigkeit und Ausstrahlung eine große Rolle, wenn es um die Wahlentscheidung des Einzelnen geht. Insofern fällt es schwer zu behaupten, dass heutige Wähler allein sachliche Gründe haben und ihre Entscheidungen vernünftig sind. Die Wirklichkeit steht im Widerspruch zu der stillschweigend getroffenen Annahme, dass Wähler die Konsequenzen ihrer Wahl überblicken und rational und politisch aufgeklärt wählen. Es lässt sich also sagen, dass auch bei politischen Wahlen neben sachlichen vor allem menschliche Dinge eine entscheidende Rolle spielen: Sympathie, Ängste, Ärger usw. Über die Fähigkeit, auf solche Weise zu entscheiden, verfügen Kinder und Jugendliche natürlich auch.
Im Übrigen sind die Fähigkeiten, die man haben muss, um seine Stimme »abzugeben«, nicht sehr zahlreich. Man muss wissen, wo das Wahllokal ist, wann es öffnet und wie man Kreuze auf einem Stimmzettel63 macht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Urteilsfähigkeit ist kein Kriterium für das Wahlrecht. Es gibt bei politischen Streitfragen keine Instanz, die über die Qualität der Argumente entscheiden könnte, nur den einzelnen Menschen mit seinem persönlichen Gewissen. Deshalb entscheiden in der Demokratie Mehrheiten, Stimmen-zahlen. Jede Stimme hat dabei das gleiche Gewicht, egal welche Argumente hinter der jeweiligen individuellen Wahlentscheidung stehen. Die Qualität von Motiven und Argumenten kann subjektiv sehr unterschiedlich bewertet werden, aber in der Demokratie zählen nicht diese qualitativen Bewertungen, sondern die quantitativen Ergebnisse. Deshalb ist es undemokratisch, wenn Kindern das Wahlrecht mit Argumenten, die ihre Qualität und Qualifikation betreffen, vorenthalten wird.64
Der »blinde Fleck« der Demokratietheorie »lässt sich einerseits als Schwachstelle begreifen, welche historisch dazu genutzt wurde, den Ausschluss vom Wahlrecht, zum Beispiel von Besitzlosen, Frauen oder anderen Gruppen, zu rechtfertigen. Sie lässt sich jedoch auch als Freiraum interpretieren, der immer wieder neuen Gruppen die Möglichkeit bietet, politische Rechte für sich einzufordern, als das dynamische Element, das historisch gesehen das Aufkommen und die Durchsetzung politischer Partizipationsrechte für immer weitere Teile der Bevölkerung begünstigt hat«.65 Dieses Buch versucht, diesen Freiraum auszuloten.