7. Die Wählbarkeit und einige weitere Einwände – eine Nebensächlichkeit?
Neben dem zentralen Streitpunkt der Wahlbefähigung tauchen in Diskussionen um das Kinderwahlrecht immer wieder andere kritische Argumente auf. Auch sie sollen diskutiert werden.
Die Wählbarkeit
Müssen Kinder auch wählbar sein? Das passive Wahlrecht ist ebenso wie das aktive Wahlrecht mittels der Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit geregelt. »So muss jeder bei der Wahlbewerbung ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede, insbesondere auf seine Abstammung, seine Herkunft, seine Ausbildung oder sein Vermögen die gleichen Chancen haben, Mitglied des Parlaments zu werden.«66 Jedoch ist die Wählbarkeit ausdrücklich an einige Bedingungen geknüpft, von denen hier nur das Mindestalter interessant ist. Dieses Mindestwahlalter bestimmt das Grundgesetz in Artikel 38 (2) als »das Alter [...], mit dem die Volljährigkeit eintritt.«67 Da die Volljährigkeit im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt ist, kann die Altersgrenze – anders als beim aktiven Wahlrecht, bei dem die Grenze mit 18 Jahren zahlenmäßig festliegt – nicht mit derselben juristischen Konstruktion angegriffen werden. So weit die aktuelle Gesetzeslage.
Für das Problem der Altersgrenze beim aktiven Wahlrecht spielt die Frage der Wählbarkeit keine Rolle. Das aktive Wahlrecht kann man ändern und die Wählbarkeit belassen wie sie ist. So könnte das Thema hier völlig ausgespart bleiben.
Dennoch bleibt die generelle Frage, ob das Alter ein sinnvoller Grund ist, Personen von der Wählbarkeit auszuschließen. Der wichtigste Grund für Einschränkungen der Wählbarkeit besteht in der Absicherung vor Volksvertretern, die nicht im Sinne der Gemeinschaft handeln. So dürfen u.a. keine Verbrecher gewählt werden, weil man ihnen verantwortliches Handeln abspricht.
Deshalb Kinder pauschal auszuschließen macht keinen Sinn, wie die folgende Überlegung zeigt. Ein Minderjähriger müsste gewählt werden wollen (1), er hätte etliche Hürden zu nehmen, um formell zum Kandidaten ernannt zu werden (2), nachfolgend müsste er eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen (3). Falls er das schaffen würde, hätte er zwar Einfluss, müsste sich aber im Parlament um Verständigung mit den anderen Mandatsträgern bemühen (4), um seine »unreifen« Ideen umzusetzen. Dass es einem Minderjährigen gelingen könnte, diese vier Stufen zu nehmen, ist unwahrscheinlich. Gelingt es ihm dennoch, kann davon ausgegangen werden, dass er als Volksvertreter geeignet ist. Insofern spricht nichts für die Altersgrenze bei der Wählbarkeit, da auch ohne sie die mit ihr verfolgten Ziele erreicht werden.
Wahrscheinlich hätte die Einführung auch der Wählbarkeit formale Folgen in Gesellschaftsbereichen, in denen die Volljährigkeit eine Rolle spielt. Die Problematik abzuschätzen übersteigt aber den Rahmen des vorliegenden Buches, sie bietet der rechtswissenschaftlichen Forschung ausreichend Stoff.
Sonstige Altersgrenzen
Kritiker weisen unter anderem darauf hin, dass, wer noch nicht einmal Auto fahren darf, schon gar nicht das Wahlrecht haben dürfe.68 Andere lehnen das Kinderwahlrecht ab, da angeblich damit auch das (Erwachsenen-)Strafrecht für Kinder gelten müsse. Was ist das Element, das diese seltsam anmutenden Argumente verbindet?
Altersgrenzen stellen eine statistische Abstraktion dar, die individuelle Unterschiede bei den Fähigkeiten (und Bedürfnissen) von Menschen nicht berücksichtigt. Wie im Abschnitt zur Wählbarkeit vorgeführt, lässt sich die Entscheidung, ob jemand für eine Sache geeignet ist, ohne Festlegung einer Altersgrenze treffen. Es kommt darauf an, ob die konkrete Persönlichkeit für die konkrete Aufgabe qualifiziert ist. Wie das ermittelt wird, ist beim Gewähltwerden einfach: Der Kandidat muss ausreichend Stimmen erhalten. Beim Autofahren trifft man auf zwei Bedingungen: eine pauschale Altersgrenze und die Fahrprüfung. Die Altersgrenze ist in diesem Fall genauso überflüssig wie bei der Wählbarkeit. Wenn der Kandidat die Fahrprüfung besteht, verfügt er über die erforderlichen Kenntnisse und kann getrost am Verkehr teilnehmen. Mehr ist nicht erforderlich. Sollte die Prüfung die Qualifikation des Fahrschülers nicht sichern, muss die Prüfung verschärft – und nicht die diskriminierende Altersgrenze aufrechterhalten werden.69
Ich lasse noch einmal den Kinderrechtler Ekkehard von Braunmühl zu Wort kommen: »Altersgrenzen verallgemeinern und normieren oft überholte Erfahrungen zu ›durchschnittlichen‹ Erwartungen an die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von Menschengruppen. Damit dokumentieren sie aber obrigkeitsstaatliches Misstrauen in die Freiheit konkreter Personen und führen in vielen Bereichen zu unsinniger Diskriminierung. Um die Gleichberechtigung der Generationen voranzutreiben, empfiehlt es sich deshalb, bedürfnis- und fähigkeitsbezogene Alternativen zu jeder Altersgrenze zu erarbeiten.« Damit »jedwede altersbegründete Benachteiligung/Ungleichberechtigung« aufhören kann, muss geklärt werden, wie »bei kleinstmöglichem bürokratischem Mehraufwand ein größtmöglicher Abbau – oder sogar die vollständige Beseitigung – der Altersdiskriminierung erreicht werden kann. [...] Menschen, die irgendetwas Besonderes brauchen und wollen (Schutz, Hilfe, Pflege usw.), brauchen und wollen dies nicht primär auf Grund ihres Alters, sondern auf Grund ihrer Situation und Bedürfnisse. Falls ich ein uralter Mummelgreis werden sollte, werde ich auf mancherlei Hilfe angewiesen sein, aber ich möchte diese Hilfe dann nicht bekommen, weil ich irgendein Alter erreicht habe, sondern weil ich auf Hilfe angewiesen bin. Ebenso haben Kinder gewiss viele berechtigte Ansprüche, aber die müssen nicht aus ihrer Altersgruppenzugehörigkeit, sondern können ohne Nachteil aus ihrem konkreten Entwicklungsstand und Leistungs(un)vermögen abgeleitet werden.«70
Der Gedanke lässt sich auch auf das Strafrecht übertragen. Bereits jetzt werden gleiche strafbare Handlungen von verschiedenen Tätern nicht gleich bestraft, vielmehr prüft der Richter die persönliche Situation des Täters, bevor er das Urteil verkündet. So kann zum Beispiel jemand, der bei der Tat betrunken war, auf eine geringere Strafe hoffen. Warum soll nicht auch bei Kindern individuell zuerst be- und dann verurteilt werden?
Nebenbei bemerkt stehen Kindern bereits andere Grundrechte zu, ohne dass sie deshalb dem Erwachsenenstrafrecht unterworfen wären. Eine ähnliche Erkenntnis hat auch in den 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung Eingang gefunden: »Um gewisse Schutzrechte/Privilegien für Minderjährige aufrechtzuerhalten, sei es im Übrigen unschädlich, wenn etwa die Altersgrenzen für die Geschäftsfähigkeit und Strafmündigkeit einerseits und für das aktive Wahlrecht andererseits voneinander ›entkoppelt‹ würden.«71
Schließlich existieren bereits in vielen sozialen Bereichen höchst unterschiedliche Altersgrenzen.72 So steht nach Vollendung des 14. Lebensjahres dem Kind die Entscheidung zu, zu welcher Religion es sich bekennen will, wer 15 Jahre alt ist, kann Sozialhilfeanträge stellen, ab sieben Jahren haften Kinder grundsätzlich für von ihnen verursachten Schaden und im gleichen Alter beginnt die so genannte beschränkte Geschäftsfähigkeit, während Jugendliche strafrechtlich mit 14 zur Verantwortung zu ziehen sind. Diese Aufzählung schränkt in keiner Weise ein, was zuvor zur Idee der fähigkeitsbezogenen Grenzen dargelegt wurde. Noch weniger relativiert sie die Ausführungen zu Altersgrenzen bei Menschenrechten. Die genannten Grenzen sollten jedoch den Kritikern des Kinderwahlrechts vor Augen führen, dass die Strenge, die beim Wahlalter gefordert wird, willkürlich ist.
Die Volksvertreter
Manche Gegner des Kinderwahlrechts wenden ein, dass die gewählten Abgeordneten Repräsentanten des ganzen Volkes sind und sich auch um die Belange derer kümmern müssten, die gar nicht wählen wollen oder dürfen. Sie sind formal nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet, zugleich müssten sie ihre politischen Handlungen aber am Gemeinwohl orientieren, für das sie verantwortlich sind. »Die Abgeordneten [sind] keinesfalls ›nur‹ ihrem privaten Gewissen unterworfen, sondern vor allem an die geltende Verfassung und das durch sie begründete ›Amtsgewissen‹ gebunden.«73 Deshalb, so der Einwand, bedürfe es der direkten Beteiligung der Kinder gar nicht. Verantwortliche Politiker würden verantwortungsbewusst auch auf das Wohl aller jungen Menschen achten.
Letzteres mag sein. Aber die Praxis zeigt, dass es dann wohl zu wenig verantwortliche Politiker gibt. Wer will die Augen verschließen vor den in Kapitel 3 angerissenen Missständen? Der Eindruck bestätigt sich immer wieder, dass Kinder- und Jugendpolitiker sich zwar um Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel bemühen, aber im Wettstreit mit den Vertretern der großen Politikfelder unterliegen. Das Kinderwahlrecht ist ein Mittel, dass daran etwas ändern kann; ihm kommt die Funktion eines notwendigen Korrektivs zu. Zudem stellen viele Abgeordnete zwar im Namen der Kinder Forderungen – wie die Debatte um die Schulreform zeigt – vertreten dabei jedoch ihre eigenen Ansichten und nicht die der Kinder.
Kinderparlamente
Kinder und Jugendliche sollen nicht gleich das richtige Wahlrecht erhalten, in Kinderparlamenten könnten sie ihre Interessen auch – vorläufig sogar besser – durchsetzen, so lautet ein weit verbreiteter Einwand gegen das Kinderwahlrecht. So genannte Partizipationsprojekte können tatsächlich wirksame Instrumente sein. Ich kenne keinen Befürworter des Kinderwahlrechts, der sich gegen gut organisierte Kinderbüros oder Kindergemeinderäte ausspricht. Allerdings existieren bisher nur wenige Initiativen, die effektive Mitbestimmungsmöglichkeiten haben. In den meisten Fällen sind sie auf das Wohlwollen des Gemeinderats oder des Bürgermeisters angewiesen und können nicht über Finanzen entscheiden. Sie agieren praktisch immer in einem begrenzten lokalen Zusammenhang; ihre Arbeit entspricht Bürgerinitiativen, die in Erwachsenenkreisen ebenso existieren und niemals als Alternative zum Wahlrecht angeführt werden. Leider haben viele der so genannten Beteiligungsprojekte immer noch Alibicharakter und sollen das Ansehen der Politiker verbessern – ohne ihnen Zugeständnisse abzuverlangen.74
Wahlen ändern nichts...
...sonst wären sie verboten, lautet eine weit verbreitete Ansicht, da helfen auch Kinderstimmen nichts. Der Parlamentarismus vermag nach Meinung vieler Menschen zahlreichen gesellschaftlichen Problemen nicht (mehr) gerecht zu werden. Schwerfälligkeit, Eigeninteresse von Politikern und die Abhängigkeit der Politik von Interessen der Wirtschaft nähren den Zweifel an der parlamentarischen Demokratie.
Aber auch das ist kein Grund, Kindern das Wahlrecht vorzuenthalten. Im Gegenteil. Kinder und Jugendliche werden durch das Wahlrecht – in Form von steigender Achtung – profitieren. Dieser Effekt würde auch dann eintreten, wenn sich das herrschende System der parlamentarischen Demokratie tatsächlich als prinzipiell ungeeignet für die Gestaltung der Gesellschaft erweisen würde.
Die Kritik an den Schwächen des Parlamentarismus wird unter dem Motto geführt: »Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben!« Sich mit dieser Frage weiter auseinander zu setzen sprengt den Rahmen des vorliegenden Buches. Falls durch die Einführung des Kinderwahlrechts auch die kritische Diskussion des Parlamentarismus einen Impuls bekäme, wäre das jedoch kein Fehler. Ich möchte sogar behaupten, dass Kinder und Jugendliche zu den potenziell konstruktiven Kritikern des Parlamentarismus zählen.75