8. Genügen das Stellvertreterwahlrecht oder die Senkung des Wahlalters?
Das Kinderwahlrecht ergibt sich – wie oben dargelegt – unmittelbar aus den Menschenrechten und der Demokratie und lässt sich verfassungskonform durchsetzen. Aber wie soll man sich diese Wahlrechtsänderung praktisch vorstellen?
An der Beantwortung dieser Frage scheiden sich die Befürworter des Kinderwahlrechts. Einige, zumeist prominente Vertreter bevorzugen weniger provokante Varianten wie das Stellvertreterwahlrecht und die Absenkung des Wahlalters, während andere Mitstreiter auf der Einführung des echten, uneingeschränkten Kinderwahlrechts beharren. Versucht man, die verschiedenen Lösungsvorschläge systematisch zusammenzufassen, so fällt auf, dass die verschiedenen Konzepte jeweils von Vertretern bestimmter Berufe vertreten werden.
Die Verfechter des echten Kinderwahlrechts sind Publizisten, kritische Pädagogen und Vertreter von Jugendorganisationen. Sie berufen sich auf die Menschenrechte und moralphilosophische Prinzipien wie die Gleichberechtigung und messen ihre Forderungen an dem Effekt, den diese für Kinder erbringen können. Das Wahlrecht ist für sie nur einer der Schritte, ein methodisches Element, auf dem Weg zu einer für Kinder friedlichen Welt, die deren Bedürfnisse ernst nimmt und sich durch mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen auszeichnet.
Die Befürworter des Stellvertreterwahlrechts lassen sich in einer zweiten Gruppe zusammenfassen, die sich vorwiegend aus Juristen rekrutiert. In ihren Überlegungen fehlen Hinweise auf aktuelle Kinderinteressen völlig; Kinder kommen nicht als Persönlichkeiten im kindlichen und jugendlichen Alter vor. Vielmehr spielen sie nur eine Rolle als Erbringer von Renten oder Abzahler der gewachsenen Staatsverschuldung, die unter den Folgen der jetzigen verfehlten Politik leiden werden – also erst dann, wenn sie erwachsen sind. Mit bewundernswerter Stringenz arbeiten einige Juristen die Gleichwertigkeit von Kindern und Erwachsenen aus Verfassungsgerichtsentscheidungen und dem Grundgesetz heraus. Aber ganz im Stil der weit verbreiteten Auffassung vom Kind als Objekt, das zu entwickeln und zu schützen ist, versagen sie ihm die tatsächliche politische Partizipation.
Eine dritte Gruppe bilden Politiker und andere, denen im aktuellen Tagesgeschehen praktische Vermittlungsvorschläge abverlangt werden. Sie fordern geringfügige Wahlaltersenkungen. Ihre Motive sind gemischt. Teils hoffen sie, wenigstens für ältere Jugendliche Verbesserungen herauszuschlagen, teils meinen sie auch, mit einem Kompromiss weiter gehende Wahlrechtsforderungen zu befriedigen. Und manche glauben, damit der so genannten Politikverdrossenheit entgegenwirken zu können.
Das Stellvertreterwahlrecht
Die Vorschläge
Wie bereits erwähnt, sind es vor allem Juristen, die vorschlagen, Kindern zwar das Wahlrecht einzuräumen, jedoch die Stimmabgabe treuhänderisch durch die Eltern vornehmen zu lassen.76 Verfechter des Stellvertreterwahlrechts haben sich 1997 zum Verein »Allgemeines Wahlrecht e.V.« zusammengeschlossen und sich folgendes Ziel gesteckt: »Angestrebt wird eine stellvertretende Ausübung des Wahlrechts bis zum Erreichen der Volljährigkeit.«77 Abgesehen davon, dass schon der Begriff der »Ausübung des Wahlrechts« in sich fragwürdig ist, bleibt diese Position selbst unter Juristen wegen ihrer juristischen Implikationen nicht unangefochten.78
Einen Sonderfall stellt hier die Position des Münchner Politologen und Rechtsanwalts Peter Merk dar, der sich für ein gemischtes System ausspricht. Bereits vor der Kinderkommission des Deutschen Bundestages vertrat er 1996 die Ansicht, dass Kinder selbst wählen sollten, wenn sie vorher ihren »Partizipationswillen« – den Wunsch, selbst mitzuwählen – offiziell bekundet haben. Diese Variante kommt der in diesem Buch favorisierten Form des Wahlrechts ohne Altersgrenze am Nächsten. Peter Merk möchte darüber hinaus jedoch erreichen, dass für die Kinder ohne Partizipationswillen die Eltern stellvertretend wählen, damit die Kinderstimmen nicht »verloren« gehen und der erhoffte Zugewinn an Generationengerechtigkeit nicht durch Noch-nicht-Wähler geschmälert wird.79
Ein anderer Sonderfall des Stellvertreterwahlrechts ist das Familienwahlrecht, demzufolge Kinder auch im juristischen Sinn ohne Wahlrecht bleiben, die Eltern jedoch pro Kind eine Zusatzstimme erhalten. Das läuft auf ein Pluralwahlrecht80 hinaus und verstößt gegen den in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz, der allen modernen Demokratien als unverzichtbar gilt.81 Diese Variante wird gegenwärtig nicht ernsthaft diskutiert.82
Die Kritik
Es muss bezweifelt werden, dass Eltern wirklich im Sinne der Kinder abstimmen. Hierzu sind sie zwar nach der Argumentation der Befürworter des Stellvertreterwahlrechts gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes verpflichtet. Dort heißt es: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Daraus schlussfolgert der bayerische Jurist Konrad Löw, »dass die Eltern die von der Natur berufenen Interessenvertreter ihrer Kinder sind«83. Aus meiner – und wohl nicht nur meiner – Erfahrung mit zahlreichen jungen Menschen ist das eine sehr formale, rein juristische und realitätsferne Sichtweise, die sich auch in der Aussage von Lore Maria Peschel-Gutzeit wieder findet: »Bei der Ausübung des Wahlrechts müssten sich die Eltern – wie bei allen anderen das Kind betreffenden Entscheidungen auch – allein am Wohl des Kindes orientieren.«84 Das ist eine unkontrollierbare Vorschrift.
Überraschenderweise stellt selbst Hans Hattenhauer, einer der Befürworter des Stellvertreterwahlrechts, fest: »Wo es um die minderjährigen Kinder geht, arbeitet man dort plötzlich statt mit dem angemessenen Begriff ›Recht‹ mit der wolkigen Vokabel ›Kindeswohl‹. Bisher hat niemand das ›Kindeswohl‹ trotz großer Anstrengungen auf einen klaren Begriff bringen können.«85 Allein die allgegenwärtige Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die einerseits Eltern und andererseits Kinder an die Schule richten, kann die Fragwürdigkeit der Floskel vom Kindeswohl deutlich machen. Von solchen Sachverhalten zeigt sich der Jurist Konrad Löw unbeeindruckt: »Wenn dennoch die Eltern prinzipiell als die gesetzlichen Vertreter der Kinder anerkannt sind, so deshalb, weil die Erfahrung zeigt und der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die Eltern die wahren Kindesinteressen besser erkennen, als die Kinder selbst und unterstellt werden darf, dass ihnen am Wohle ihrer Kinder sehr viel gelegen ist.«86
»Weil die Erfahrung zeigt und der Gesetzgeber davon ausgeht«–diese Formulierung aus dem Munde eines Juristen kann als Versuch aufgefasst werden, sein Plädoyer abzurunden und die eigene Position zu retten. Aber in Wirklichkeit lehrt die Erfahrung – wenn auch nicht in allen Familien – etwas anderes. In Familien, in denen ein gutes Verhältnis zwischen den Generationen herrscht, wären Eltern sicher faire, akzeptierte Berater, die ihre Macht nicht ausnutzen. Weshalb aber sollten gerade sie den Kindern und Jugendlichen die Wahlentscheidung abnehmen? In Familien, in denen Kinder Angst haben, sich unwohl fühlen, ausgenutzt werden und in denen die Eltern die Kinder kommandieren, darf im Gegensatz zu Konrad Löw »unterstellt werden«, dass die Eltern das Kindeswohl nicht (er)kennen. Eher muss wohl mit dem Politologen Claus Offe gefragt werden: »Und würden sie sich überhaupt um das Kindeswohl bemühen – statt um die Aufbesserung ihres laufenden Haushaltseinkommens im zumindest vornehmlich eigenen Interesse, das nicht immer mit dem langfristigen87 Kindeswohl übereinzustimmen braucht?«88 In diesen Familien besteht ein verhängnisvolles Eltern-Kind-Machtgefälle. Gerade dort müssten die Kinder selbst wählen dürfen.
Mir scheint die Argumentation der Juristen bezüglich des Elterninteresses am Kindeswohl abstrakten Überlegungen zu entspringen. Wenigstens schimmert auch bei Konrad Löw ein Rest Zweifel durch, wenn er feststellen muss: »Wie aber bei allen anderen Entscheidungen, die Eltern zu Gunsten und zu Lasten ihrer Kinder treffen, sind sie es, die letztlich bestimmen, da sie auch die Verantwortung tragen. Wenn schon unsere Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, so erst recht nicht die Eltern an die Wünsche ihrer Kinder. Andernfalls gäbe es keinen sachlichen Grund, die Entscheidung nicht durch die Kinder selbst treffen zu lassen.«89 Mit diesem Vergleich von Eltern und Abgeordneten hat Konrad Löw wohl selbst den zentralen Schwachpunkt des Stellvertreterwahlrechts deutlich gemacht und sich damit in letzter Konsequenz widerlegt. Abgeordnete werden nämlich abgewählt, wenn der Souverän sie nicht mehr will. Kinder können ihre Eltern nicht abwählen.
Die Höchstpersönlichkeit
Zunächst kann festgehalten werden, dass an das Stellvertreterwahlrecht keinerlei Hoffnungen geknüpft sind, den Kindern, von ihrem Subjektstatus ausgehend, einen Zuwachs an Beachtung und damit an Emanzipationsmöglichkeit zukommen zu lassen. Ernst genommen zu werden, mitzubestimmen und Einfluss nehmen zu können – das alles bleibt beim Stellvertreterwahlrecht grund-sätzlich und dauerhaft unberücksichtigt. Weil sich beim Kinderwahlrecht mehrere Argumentationsstränge verschränken, spricht nicht nur aus der Perspektive der Gleichberechtigung und des Subjektstatus, der auch bei Kindern anerkannt werden soll, sondern ebenso aus juristischer Sicht vieles gegen das Stellvertreterwahlrecht.
Die Begründung des Stellvertreterwahlrechts läuft auf das bereits diskutierte Verhältnis von Artikel 20 (2), 79 (3) und 38 (2) des Grundgesetzes hinaus. Allerdings hat sie einen zentralen Schwachpunkt – den Verstoß gegen das Prinzip der Höchstpersönlichkeit der Wahl.
Im wichtigsten Kommentar des Bundeswahlgesetzes betont Wolfgang Schreiber: »Die Vertreter des Modells eines ›Kinderwahlrechts‹ übersehen, dass eine Stellvertretung beim aktiven Wahlrecht verfassungsrechtlich überhaupt nicht zulässig und mithin eine einfachrechtliche Einführung des Stellvertretermodells nicht möglich ist. Sie kann nicht im Sinne lediglich einer – von ihr abtrennbaren – Wahlrechtsausübungsregelung ausgelegt werden. Als (aktives) Statusrecht und (politisches) Grundrecht ist das aktive Wahlrecht ein höchstpersönliches Recht und damit der Disposition des Bürgers entzogen; es ist weder veräußerlich noch abtretbar, noch verzichtbar, noch kann es zur Ausübung übertragen werden. Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe, wie es in Paragraf 14 (4) BWahlG normiert ist, stellt die Konkretisierung der in Artikel 38 (1) Satz 1 GG festgeschriebenen Grundsätze der unmittelbaren, geheimen und freien Wahl dar. [...] Das geltende Bundestagswahlrecht geht deshalb von der Unzulässigkeit der Stellvertretung aus (auch bei der Briefwahl und bei der Unterstützung von Hilfspersonen im Rahmen der Stimmabgabe).«90 An einer anderen Stelle des Wahlgesetzkommentars wird letzteres erläutert: »Bei der Tätigkeit der Hilfsperson handelt es sich lediglich um eine ›technische‹ Hilfeleistung bei der Kundgabe des Wählerwillens, nicht um eine Stellvertretung. [...] Eine Einflussnahme auf die Stimmabgabe seitens der auserwählten Person ist unstatthaft. Die Hilfestellung hat sich auf die Erfüllung der Wünsche des Wählers zu beschränken.«91
Konkret zum Kinderwahlrecht äußert sich der Jurist Ingo von Münch unmissverständlich: »Bei der Ausübung eines Wahlrechts von Minderjährigen durch den gesetzlichen Vertreter geht es dagegen gerade nicht um eine bloße ›technische Hilfeleistung‹, sondern um die inhaltliche Wahlentscheidung selbst. Die inhaltliche Wahlentscheidung lässt aber eine Stellvertretung nicht zu.«92 Das scheint ein vernichtendes Urteil gegen das Stellvertreterwahlrecht zu sein.
Da aber die Verteidiger des Stellvertreterwahlrechts trotz der ihnen widersprechenden Argumentation ihrer Idee weiterhin anhängen, sollen kurz ihre Positionen und Rechtfertigungen dargestellt werden. Die wohl prominenteste Befürworterin des Stellvertretungswahlrechts Lore Maria Peschel-Gutzeit macht es sich ziemlich einfach, wenn sie schreibt: »Diese Kritiker können freilich nicht erklären, wieso der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit bereits nach derzeit geltendem Recht durchbrochen ist. Sowohl die Briefwahl als auch der Wahlhelfer stellen in ihrer praktischen Durchführung Ausnahmen vom Grundsatz der kontrollierten Höchstpersönlichkeit dar.«93 Lore Maria Peschel-Gutzeit führt zur Stützung ihrer Position kurzerhand eine neue Kategorie ein, die »kontrollierte Höchstpersönlichkeit«. Sie lässt jedoch offen, wie sich diese von der »eigentlichen« Höchstpersönlichkeit unterscheidet. Zugleich übergeht sie Wolfgang Schreibers Argumentation bezüglich des Briefwahlrechts und der Einbeziehung von Hilfspersonen ohne Kommentar. Auch der Befürworter des Stellvertreterwahlrechts Hans Hattenhauer argumentiert ähnlich wie Lore Maria Peschel-Gutzeit. Zwar gelte, »dass bereits die Einführung des Briefwahlrechts rechtlich bedenklich gewesen sei und dass nach dem Prinzip ›abusus non tollit usum‹ der dort begangene Verstoß gegen das Höchstpersönlichkeitsdogma weitere Verletzungen nicht rechtfertige«. Da jedoch »in unserer Rechtsordnung die Möglichkeit gestufter, relativer Höchstpersönlichkeit sich nicht behaupten lässt«, könne im Wahlrecht schon jetzt nicht mehr »dessen – nur absolut mögliche – Geltung behauptet werden«.94 Folgt man Hans Hattenhauers Argumentationsgang, so könnte man auch begründen, dass in Selbstbedienungsläden nie mehr bezahlt zu werden braucht, da ja ohnehin einige Leute stehlen. Es gibt aber keine Gleichheit im Unrecht. Auch sein Versuch, die Höchstpersönlichkeit im Spannungsfeld von Personenrecht und Vermögensrecht zu verorten und dort das Wahlrecht dem Vermögen zuzuschlagen, scheint sehr weit hergeholt und nicht schlüssig. »Die Person ›vermag‹ mit dem Eigentum an Sachen frei umzugehen. Sie kann sich hierbei vertreten lassen. Mit sich selbst aber soll nur sie selbst ›höchstpersönlich‹ umgehen. [...] Dass die Ausübung des Wahlrechts zum rechtlichen Können, im weiteren Sinne ›Vermögen‹ der Person – als ein subjektiv-öffentliches Grundrecht – gehört, wird heute nicht bezweifelt. Daher muss man den Grund angeben, wenn man auf höchstpersönlicher Stimmabgabe besteht. [...] An einem überzeugenden Grund aber fehlt es bis heute.« Es darf bezweifelt werden, dass diese juristische Konstruktion vor einem Gericht Bestand hätte. Der Fehler Hans Hattenhauers entsteht, wenn er das Grundrecht der politischen Mitbestimmung, das Wahlrecht, auf derselben Ebene ansiedelt wie das »Wirtschafts-, Steuer-, Miet-, Vermögensrecht etc.«.95 »Kein Mensch zweifelt bei uns daran, dass das Neugeborene Eigentümer, Steuerzahler, polizeipflichtig, Schuldner wie Gläubiger sein kann, dass ihm ein Milliardenvermögen gehören kann, obwohl es an der Mutterbrust davon absolut nichts ahnt. Der Zentralbegriff, mit dem wir dieses Bündel von Rechten und Pflichten zusammenfassen, ist der der Rechtsfähigkeit. Erscheinungsformen der Rechtsfähigkeit sind auch die Grundrechtsfähigkeit und die Wahlrechtsfähigkeit.«96
Wenn die bereits früher dargelegte prinzipielle Bedingungslosigkeit von Grundrechten nicht aufgegeben werden soll, ist das unlogisch und nicht haltbar. Bei allem juristischen Einfallsreichtum muss die Position von Hans Hattenhauer verwirrend genannt werden. Nachdem er an anderer Stelle nachwies, dass das Wahlrecht ein Grundrecht ist und deshalb auch Kindern zustehen muss, macht er nun den Kindern dieses Grundrecht streitig, da er den Eltern die Stimme zukommen lassen möchte.
Den Bezug zu einem anderen Grundrecht stellt Winfried Steffani in seiner Rechtfertigung des Stellvertretermodells (»vorübergehende Rechtsausübung durch Ermächtigte«) her: »Ein Grundrecht (etwa das Recht auf Eigentum) von Geburt an haben, bedeutet keineswegs, dass es auch von Geburt an ausgeübt werden muss.«97 Neben der üblichen falschen Denkgewohnheit von der Rechts-»Ausübung« bemüht er ausgerechnet das »Grundrecht auf Eigentum«. Das Grundrecht auf Eigentum ist jedoch ein untaugliches Beweismittel für die Stellvertretung, da es mit einer Bedingung ausgestattet ist: »Eigentum verpflichtet« steht im 2. Absatz des Artikel 14 des Grundgesetzes. Aus Eigentum erwachsen zum Beispiel Steuerpflichten; Steuern muss auch ein Eigentum besitzender Säugling entrichten. Vertreten wird man also nur in Situationen mit einer Handlungsverpflichtung und diese Verpflichtung ist nicht an die Höchstpersönlichkeit gebunden.
Lore Maria Peschel-Gutzeit bringt ein weiteres Argument vor. Da sie nur die beiden Alternativen Stellvertreterwahlrecht (Verstoß gegen Höchstpersönlichkeit) und Wahlrecht ab 18 (Verstoß gegen Allgemeinheit) betrachtet, kommt sie zu dem Schluss, dass bei Einhaltung des Höchstpersönlichkeitsprinzips zwangsläufig der Allgemeinheitsgrundsatz eingeschränkt werden müsste. »Im Rahmen einer notwendigen Interessenabwägung zwischen den beiden Verfassungsgrundsätzen [dürfte] dem Allgemeinheitsgrundsatz der Vorrang zu gewähren sein.«98
Unverständlicherweise erwähnen weder Hans Hattenhauer noch Lore Maria Peschel-Gutzeit den Vorschlag eines echten Kinderwahlrechts, bei dem das Höchstpersönlichkeitsprinzip gewahrt bleibt, ohne mit dem Grundsatz der Allgemeinheit zu kollidieren, obwohl beide die entsprechenden Argumente kennen.99
Außerdem geben die Stellvertretungsbefürworter keine Antwort auf das Problem bei Stiefeltern, bei national gemischten Ehen, bei Eltern, die selbst noch nicht 18 Jahre alt sind, bei ausländischen Eltern mit deutschen Kindern, bei Scheidungsstreitigkeiten usw. Soll bei Waisenkindern das Jugendamt die den Eltern zustehende Stimme abgeben können?100
Die Absenkung des Wahlalters
Die Vorschläge
Neben dem Modell des Stellvertreterwahlrechts existiert der an Popularität gewinnende Vorschlag, das Wahlalter partiell abzusenken. Hierzu melden sich neben anderen Autoren der bekannte Jugendforscher Klaus Hurrelmann101, aber auch Parteien (PDS, SPD, Bündnis90/Die Grünen102) zu Wort.103 Sie erheben diese Forderung aus juristisch-formalen Machbarkeitsgründen teilweise eingeschränkt auf Kommunalwahlen. In den Bundesländern Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein,104 Mecklenburg-Vorpommern und zwischenzeitlich in Hessen haben sie ein kommunales Jugendwahlrecht ab 16 bereits durchgesetzt. Die PDS möchte das Wahlalter sogar bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre senken und Bündnis 90/Die Grünen in Berlin will für Kommunalwahlen ein Mindestwahlalter von 14 Jahren einführen.
Klaus Hurrelmann setzt sich sogar für zwölf Jahre ein. »Die kognitive Entwicklungsforschung zeigt, dass in der Alterspanne zwischen zwölf und vierzehn Jahren bei fast allen Jugendlichen ein intellektueller Entwicklungsschub stattfindet, der sie dazu befähigt, abstrakt, hypothetisch und logisch zu denken. Parallel dazu steigt in dieser Altersspanne auch die Fähigkeit an, sozial, ethisch und politisch zu denken und entsprechende Urteile abzugeben.«105
Hinter den verschiedenen Überlegungen zu einem niedrigeren Wahlalter steht, wie das Zitat belegt, die fragwürdige Vorstellung von der »Ausübung des Wahlrechts«, also das Festhalten an der Wahlfähigkeit. Zudem bestätigt die Unterschiedlichkeit der Altersforderungen die Unmöglichkeit, die nötigen Fähigkeiten zu benennen oder sie gar einem bestimmten Alter zuzuordnen. Daher ist dieses Verfahren von vornherein ungerecht, da es immer Menschen ausschließt, die unter der nach Gutdünken gezogenen Altersgrenze liegen.
Obwohl die Wahlaltersenkung nur eine gemäßigte Variante des Kinderwahlrechts darstellt, kommt dennoch deutliche Kritik aus der konservativen Ecke.106 »Der Wähler muss ernst genommen werden. Der fühlt sich verschaukelt, wenn er sehen muss, dass die Politik jemandem das Wahlrecht schenkt, den sie nicht für verantwortungsvoll genug hält, einen Personenkraftwagen zu führen. Das bedeutet, ein Kinderwahlrecht muntert nicht nur nicht die Kids auf, es verdrießt die Erwachsenen. Warum soll ich noch wählen, wenn ich gewärtigen muss, dass der 16-jährige Bengel von nebenan nach mir die Wahlkabine betritt, auf dem Wahlzettel seinen Rocksänger vermisst und deshalb die Zahl der ungültigen Stimmen vermehrt.«107 Offen bleibt, wie der Autor dieser Zeilen die zahlreichen erwachsenen Wähler verkraftet, denen die Fahrerlaubnis wegen ihrer Verantwortungslosigkeit wieder entzogen wurde. Aber unsachliche Äußerungen, die lieber mit Vorurteilen und emotionaler Ablehnung statt mit Argumenten arbeiten, findet man vielerorts. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag Michael Glos schlägt in die gleiche Kerbe: »Das Wahlrechtsalter kann nur Ausweis sein für die politische und rechtliche Mündigkeit des jungen Menschen, die aber mit 16 bekanntlich nicht gegeben ist. [...] Die jetzige Regelung mit dem Wahlrechtsalter hat sich bewährt und wird der gesellschaftlichen und politischen Lebenswirklichkeit gerecht.«108
Mit bloßen Behauptungen ohne inhaltliche Substanz kommen diese Stimmen daher und machen es den Verfechtern der Absenkung der Altersgrenze schwer. »Alle Umfragen – zuletzt die in Brandenburg – haben ergeben, dass die Mehrheit der Jugendlichen keine Wahlrechtsänderung will. Zeigen Sie mir eine einzige Umfrage mit einem gegenteiligen Ergebnis! [...] Es bleibt der fatale Eindruck, dass hier ein taktisches Spiel gespielt wird, um Stimmen zu fangen.«109
Die Befürworter der Alterssenkung erhoffen sich taktische Vorteile, lautet dieser typische Vorwurf. Erstens bleibt der Einwand unbewiesen, zweitens ist er kein ernstes Argument gegen die Alterssenkung, wie das Beispiel Niedersachsen beweist. Dort profitierte die CDU bei den Kommunalwahlen wider Erwarten von der Wahlaltersenkung der SPD-Regierung – und ist zumindest vor Ort zurückhaltender in ihrer Ablehnung geworden.
Vor allem aber handeln Kritiker des Kinderwahlrechts inkonsequent, die mit den oben genannten Umfrageergebnissen argumentieren. Die Tatsache der Befragung beweist, dass sie Jugendliche ernst nehmen. Sie unterstellen ihnen unausgesprochen ausreichend »Reife«, um über eine Wahlrechtsänderung zu befinden. Das Ergebnis der Befragung wird – falls sich die Mehrheit dagegen ausspricht – auch tatsächlich ernst genommen; ihnen wird die eigentliche Wahlentscheidung vorenthalten und paradoxerweise mit dem »Fehlen politischer Reife« begründet. In diesem Fall stellt sich die Frage, warum man die Jugendlichen nicht gleich wählen lässt. Wer nicht wählen will, weil er sich nicht für reif genug hält, wird schließlich einfach nicht hingehen. Die Argumentation mit den Befragungsergebnissen hat einen weiteren Haken. Wenn sich die Mehrheit der Jugendlichen gegen ihr eigenes Wahlrecht ausspricht, darf als Folge auch diejenige Minderheit nicht abstimmen, die abstimmen will. Mit derselben Logik könnte man Menschen das Demonstrieren verbieten, weil sie nicht in der Mehrheit sind.
Der Vorschlag, das Wahlalter nur um einige Jahre zu senken, wird nicht besser, wenn die traditionellen Kritiker nur schwache Gegenargumente haben.
Die Kritik
Die partielle Wahlaltersenkung setzt auf mehrere Effekte. Erstens sollen die Jugendlichen ernster genommen und tatsächlich einbezogen werden. Zweitens sollen die Parteien genötigt werden, bestimmte Interessen in ihrer Politik besser oder überhaupt zu berücksichtigen. Die Befürworter erhoffen sich zudem, dass dadurch die vielbeklagte Politikverdrossenheit zurückgeht.
Der Kritiker muss zunächst zugeben, dass die Senkung des Wahlalters beispielsweise auf zwölf Jahre – und für alle Wahlen bundesweit – diese Wirkungen, die auch mit dem echten Wahlrecht angestrebt werden, entfalten kann. Dennoch soll hier das Konzept der teilweisen Alterssenkung auf seine Schwächen überprüft werden.
Die Kritik an der Senkung des Wahlalters fällt aus mehreren Gründen deutlich aus. Ein Grund liegt darin, dass die genannte Grenze von zwölf Jahren für alle Wahlen in weiter Ferne ist. Die übliche Forderung lautet vielmehr, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken und das auch nur bei Kommunalwahlen. Mit dieser geringfügigen Alterssenkung sind die oben genannten Ziele kaum zu erreichen. Der gesellschaftliche Schub kann nicht eintreten, da Politiker nur wenig motiviert werden, ernsthafte Änderungen herbeizuführen. Die Bundesund Landespolitik ist in diesem Fall von den neuen Wählern nicht abhängig, obgleich viele jugendrelevante Entscheidungen nur dort getroffen werden. Das wichtige Thema Schule unterliegt beispielsweise dem Landesrecht. Außerdem stehen bzw. stünden bei kommunalem (und selbst bei bundesweitem) Wahlrecht für die 16Jährigen den Politikern gerade einmal zwei Prozent zusätzliche Wähler gegenüber.110 Zudem ist die neue Wählerschaft nur hinzugekommen, weil sie »schon reif« ist. Sie muss von den Parteien und Kandidaten deshalb kaum anders berücksichtigt werden als die bisherigen erwachsenen Wähler. Folglich müssen die Wahlprogramme nicht geändert werden, es kann alles beim Alten bleiben. Dies gilt natürlich auch für den Stil der Politik und des Wahlkampfes.
Die Politik kann für Kinder wichtige Probleme – zum Beispiel im Elternhaus und in der Schule – mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie in der Vergangenheit vernachlässigen, denn die 16- und 17-Jährigen, selbst wenn sie zu 100 Prozent und begeistert mitwählen, haben an Kinderthemen kaum noch Interesse, weil sie dafür schon zu alt sind.
Ein zentrales Element der Idee der Wahlaltersenkung um wenige Jahre ist die Auffassung, dass die »Kleinen« in erster Linie behütet werden müssen – und damit faktisch bevormundet werden. Die Tatsache, dass nur die angeblich »reifen« Jugendlichen mitmachen können, verfestigt die Vorurteile gegenüber den jüngeren Kindern und Jugendlichen. Und selbst die neuen Wähler werden im Rahmen der üblichen Vorschläge weiterhin diskriminiert, da sie bis zu ihrem 18. Geburtstag angeblich nur im kommunalen Zusammenhang fähig sind, eine ernsthafte Meinung zu haben. Der Effekt, dass Kinder nach wie vor für unfähig gehalten werden, sich politisch zu beteiligen, wiegt schwer. Sie werden damit eben nicht ernst genommen. Die große Chance, dass Eltern und Erwachsene generell sich wegen des Kinderwahlrechts anders auf ihre Kinder einlassen, in ihnen gleichberechtigte Mitmenschen und nicht zu schützende Objekte sehen, wird mit der partiellen Alterssenkung vertan.
Schließlich darf neben der Kritik an den politischen Implikationen der wesentliche juristische Einwand gegen die Wahlaltersenkung nicht vergessen werden. Sie verstößt gegen den Verfassungsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Die Vereinbarkeit mit dem Allgemeinheitsprinzip wird bisher damit begründet, die Altersgrenze sei eine »traditionell erhärtete« und »gewohnheitsrechtlich anerkannte« Ausnahme. Die Vertreter der partiellen Alterssenkung müssten dies zunächst in Frage stellen, um die bisherige Altersgrenze aufzuheben, und anschließend wieder verteidigen, um die neue Altersgrenze festzuschreiben. Mit der teilweisen, eher geringfügigen Änderung des Wahlalters ist also ein schwer begründbarer Willkürakt verbunden.
Am Ende des Kapitels lassen sich die beiden Änderungsvorschläge zum Kinderwahlrecht zusammenfassen. Das Stellvertreterwahlrecht leidet an einer doppelten Inkonsequenz: Kinder werden nicht ernst genommen und das Höchstpersönlichkeitsdogma unseres Wahlsystems ist verletzt. Die Hoffnung, dass die Eltern wirklich die Interessen der Kinder vertreten, ist außerdem vage.
Die partielle Alterssenkung ist aus menschenrechtlicher Sicht halbherzig und insbesondere mit dem Vorschlag »16 Jahre bei Kommunalwahlen« überwiegend perspektivlos, da mit spürbaren Änderungen der Politikinhalte nicht gerechnet werden kann und die Vorbehalte gegenüber den »Kleinen« verfestigt werden–vornehmlich was ihre Grundrechte und die Frage, ob sie ernst genommen werden, betrifft. Sie verstößt außerdem gegen den Allgemeinheitsgrundsatz unserer Verfassung.
Aus den genannten Gründen inhaltlicher wie juristisch-formaler Art sollte der Schluss gezogen werden, sich der voreiligen, unüberlegten, nur scheinbar modernisierenden Senkung des Wahlalters um wenige Jahre ebenso zu widersetzen wie einer Stellvertreterlösung. Die Gründe und das weiterreichende Ziel müssen dabei mit vermittelt werden, damit eine Verwechslung mit konservativer Kritik ausgeschlossen ist.